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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Geschlechts nie sein kann. Mit äußerst seltenen Ausnahmen.
    Aber für die Freunde blieb immer weniger Zeit. Es gab keine Schulpausen mehr, keine Mittwochsspaziergänge mit dem geliebten Lehrer – der zwangsläufige tägliche Kontakt war seit dem Ende der Schulzeit vorbei, und aus alter Gewohnheit trafen sie sich zwar hin und wieder, tauchten aber immer seltener in ihren Freundschaftsraum ein, und plötzlich stellte sich heraus, dass das Leben sie auseinandergebracht hatte. Das Bedürfnis, die täglichen Ereignisse miteinander zu teilen – große, kleine und kleinste –, hatte sich erschöpft, es genügte bereits ein Telefonat in der Woche, im Monat, an Feiertagen.
    Natürlich geschah dieses Auseinanderlaufen nicht in einem Jahr, die Beziehung war für die drei Jungen lange von großem Gewicht, doch fünf, sechs Jahre nach dem Schulabschluss ließ sich nachträglich ausmachen, an welchen Punkten diese Trennung begonnen hatte. Zum Beispiel bei Micha.
    Ilja erinnerte sich an Michas Entwicklung – sein Schwärmen erst für den revolutionären Majakowski, dann für den magischen Block und schließlich für Pasternak und solche Verse wie:
    Acht Salven von der Newa her,
Die neunte
Müd wie der Ruhm.
Seht –
Links und rechts schon
Im scharfen Trab kommen sie.
Seht –
Die Fernen brüllen:
Wir rächen vergossnes Blut.
Jetzt zerbrechen
Die Gelenke
Des Eids
Auf die Dynastie.
    Ilja tolerierte Michas revolutionäre Sympathien. Sanja belächelte sie sanft. Diese Freundschaft verkraftete kleine Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Akzente mühelos. Ihr Weltfestspielbekannter Pierre Sand, der russische Belgier, hatte Micha mit seinem bewussten Hass auf die Revolution zutiefst erschüttert. Micha beschloss, sich eine eigene, unvoreingenommene Meinung über den Kommunismus zu bilden. Dafür brauchte er etwas mehr als zwei Jahre. Erst las er Marx, dann ging er zurück zu den ersten Sozialisten, bei denen alles recht einfach war, dann stolperte er über Hegel, drehte eine Pirouette und ging weiter zu Lenin.
    Sein Cousin Marlen (mit den Jahren kamen Micha und er sich immer näher) betrachtete seine Studien mit Misstrauen.
    »Du liest das Falsche, Micha. In unserer Familie hat es viele Revolutionäre gegeben, und bis auf Mark Naumowitsch wurden sie alle erschossen. Und Mark Naumowitsch hat sich gerettet, weil er erst selbst zum NKWD gegangen ist und sich dann rechtzeitig in die Provinz abgesetzt hat, als Berater für irgendwas. Ein äußerst kluger Mann und ein außerordentliches Schwein.«
    »Ich will mir Klarheit verschaffen«, rechtfertigte sich Micha treuherzig.
    »Na, mach das, mach das«, meinte Marlen. »Wenn du unbedingt das Fahrrad noch mal erfinden willst – nur zu!«
    Tante Genja stellte jedem einen Teller Borstsch hin und brachte dann das Hauptgericht, Buletten mit Kartoffeln: ihr Sohn bekam drei Buletten, Micha zwei, sie selbst eine.
    Marlen zeigte auf die Buletten und lachte lauthals.
    »Da hast du die soziale Gerechtigkeit! Und mit allem Übrigen ist es genauso!«
    Micha platzte bald der Kopf. Er las und las – er hatte immer mehr Fragen und fand immer weniger befriedigende Antworten. Er versuchte, mit Viktor Juljewitsch über den Sozialismus zu reden, doch der runzelte die Stirn und sagte, er verspüre keinen Hang zu den Gesellschaftswissenschaften.
    Ilja, einer der wissbegierigsten und am besten informierten Menschen in Michas Umkreis, warf frische Scheite ins Feuer. Das Beste war die Samisdatausgabe von Orwells 1984. Das Buch, das sie zusammen mit der Aktentasche des französischen Diplomaten Orlow, Pierres Onkel, schon 1957 verloren hatten, ohne je von dem Verlust zu erfahren. 1984 beeindruckte Micha tief – für das künstlerische Wort war er empfänglicher als für die sozialökonomische Scholastik.
    Ilja konnte einen kleinen Sieg feiern – Michas revolutionärer Drang kühlte ab. Dennoch erlahmte der Kontakt zwischen ihnen. Ganz zu schweigen von Sanja – der war ganz in seine Tonsysteme vertieft, und dafür waren seine geliebten Freunde keine Gesprächspartner.
    Die große Empfänglichkeit für Literatur hatte Micha in die traurige Lage gebracht, in der er sich im Spätherbst 1966 befand, ohne Doktorandenstelle und ohne Arbeit.
    Sein Beinahe-Betreuer Jakow Rink war enttäuscht und versuchte Micha zu helfen. Im Rahmen des Möglichen. Rink war ein zweifellos anständiger, aber auch anpassungsfähiger Mann. Und klug genug, um genau zu wissen, wie schwer Anständigkeit und Anpassungsfähigkeit zu

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