Das gruene Zelt
ihn kannte, und blätterte in dünnen Büchlein, die auf grauem, grobem Papier gedruckt waren. Manchmal kaufte er etwas, manchmal schnalzte er nur mit der Zunge. Einmal musste Olga nach Hause laufen und sich von ihren Eltern hundert Rubel borgen – für eine seltene Chlebnikow-Ausgabe.
So verging ein Jahr, sie schlenderten durch die Gassen oder tranken mit Iljas Freunden, die alle etwas Besonderes waren, einer wie der andere: ein Musikwissenschaftler, ein Jockey, ein Aufseher in einem Naturschutzgebiet, den sie einmal an der Oka besuchten, und ein richtiger Priester. Am sympathischsten fand Olga den rothaarigen Taubstummenlehrer. Sie hatte früher nie geahnt, was für interessante Menschen es auf der Welt gab und was für verschiedene, mit ihrer eigenen Philosophie und Religion. Einer war sogar Buddhist! Und Olga las viel, und das war ein weiteres Studium, nur weit interessanter als das an der Uni; die Bücher, die ihr Ilja gab, waren entweder alt oder im Ausland erschienen. Eines Tages bat er sie, ein kleines Buch aus dem Französischen zu übersetzen – eine katholische Schrift über die Wunder von Lourdes.
Sie fühlten sich so wohl miteinander, dass Olga sich schwer vorstellen konnte, dass er noch eine Frau hatte, zu der er spätabends ging. Dann veränderte sich etwas in seiner Ehe, und er erklärte immer seltener, dass er zum Timirjasew-Park raus müsse, und kehrte schließlich ganz zu seiner Mutter in die Gemeinschaftswohnung zurück. Olga lernte die stille Maria Fjodorowna kennen.
Je weiter sich Olga von ihren Eltern entfernte, desto enger wurde deren Verhältnis zu ihrem Schwiegersohn Wowa – er kam jeden Sonntag, nahm seinen ausgehfertigen Sohn in Empfang, ging mit ihm spazieren und brachte ihn zum Mittag wieder zurück. Er fütterte ihn, brachte ihn ins Bett, und dann aß er mit seinen Schwiegereltern, allerdings nur auf deren ausdrückliche Einladung, die er zunächst halbherzig ablehnte, um zu zeigen, dass es ihm keineswegs um das Sonntagsessen ging und nicht um Fainas rundliche, zu schwach gesalzene Piroggen, sondern ausschließlich um den verwandtschaftlichen Kontakt.
Olga war sonntags nie da, und sie sprachen gewöhnlich auch nicht über sie – Olga war ihr gemeinsamer wunder Punkt, sie fühlten sich gleichermaßen gekränkt, verwirrt und aus unerklärlichen Gründen verraten. Den verlassenen Ehemann plagte überdies verletzter männlicher Stolz. Zu seiner Ehre sei gesagt, dass er sich erst zwei Jahre, nachdem Olga die Scheidung verlangt hatte, eine Geliebte zulegte. Bis dahin fühlte er sich als verheirateter Mann auf einer Dienstreise von unbestimmter Dauer, wahrte sinnlose Treue und zahlte vierzig Rubel Alimente, die niemand von ihm verlangt hatte. Er glaubte noch immer, Olga würde sich besinnen, und sie würden ihr Zusammenleben einträchtig an dem Punkt wiederaufnehmen, an dem ihre Ehe gestolpert war.
Als Antonina Naumowna erfuhr, dass Olga die Scheidung eingereicht hatte, packte sie stiller Zorn. Aber sie verstand sich zu beherrschen; ihre Leidenschaften tobten tief in ihr. Je mehr sie sich zurückhielt, desto fester presste sie die Kiefer aufeinander und desto stärker quollen ihre stumpfen Augen hervor. Zu Olga sagte sie kein Wort, zu Hause ließ sie keinen Dampf ab, sie reagierte sich in der Redaktion ab. Ihre Mitarbeiter zitterten, eine kündigte aus lauter Angst, und die ihr mit Leib und Seele ergebene Sekretärin erlitt einen leichten Schlaganfall.
Afanassi Michailowitsch freute sich, seit er im Ruhestand war, still seines schlichten Lebens. Er war nicht so sensibel wie seine Frau und beeilte sich nicht, seine Tochter entschieden aus seinem Leben zu streichen, er schob sie nur weit weg und litt nicht so heftig wie Antonina Naumowna.
Offenbar spürte auch Olga die Schwäche ihres Vaters – von ihren veränderten Lebensumständen erzählte sie zuerst ihm, nicht der Mutter. Allerdings nicht ohne gewisse Hintergedanken, wie bald klar wurde …
Mitte Februar fuhr Olga auf die Datscha. Wie eine gewöhnliche Sterbliche, mit dem Bus. Sie kam an einem Werktag, nicht am frühen Morgen und nicht am Abend – kurz nach Mittag traf sie bei ihrem Vater ein. Gerade war ihm aus dem nahe gelegenen Erholungsheim der Armee das Essen gebracht worden, als sei er ein Kurgast: drei Gänge und ein wunderbares hausgebackenes süßes Brötchen. Als Olga eintraf, hantierte er mit den Thermosbehältern. Er freute sich, denn er hatte sie lange nicht gesehen, und der familiäre Zwist war mit der Zeit
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