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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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gemeinsame Vergangenheit in den Himmel, beschrieb sie als die besten Jahre seines Lebens, bereute seine Sünden, bat um Verzeihung, und mit ein wenig übertriebenem Pathos, aber sehr überzeugend, deutete er an, dass sie sich unbedingt wiedersehen würden, und dass diese Begegnung mit jedem Tag näher rücke.
    Dieser Brief bewirkte eine Wende in Olgas Leben und im Verlauf ihrer Krankheit. Nachdem sie ihn gelesen hatte, legte sie ihn beiseite und bat Tamara um ihre Kosmetiktasche. Sie betrachtete sich in dem kleinen Spiegel, seufzte und puderte sich die Nase – der Puder lag wie ein rosa Fleck auf ihrem wachsgelben Gesicht, und das bemerkte sie sehr wohl. Sie bat Tamara, ihr anderen Puder zu kaufen, helleren.
    »Diesen hier kann ich bei meiner Gesichtsfarbe als Rouge verwenden.« Sie lächelte ihr früheres Lächeln, bei dem sich gleich vier Grübchen bildeten – zwei runde in den Mundwinkeln und zwei längliche auf den Wangen.
    Sie las den Brief noch einmal, griff erneut nach ihrer Kosmetiktasche und korrigierte etwas an ihrem Gesicht. Bevor Tamara ging, bat sie sie, ihr am nächsten Tag einen stabilen großen Briefumschlag mitzubringen.
    Sie will ihm antworten, dachte Tamara. Aber sie irrte. Am nächsten Morgen legte Olga das ausländische Kuvert in den großen Umschlag und verstaute ihn ganz unten im Nachtschrank. Tamara wartete darauf, dass Olga ihr Iljas Brief vorlesen würde, aber die dachte gar nicht daran. Schließlich hielt Tamara es nicht mehr aus und fragte, was Ilja geschrieben habe. Olga lächelte entrückt und antwortete sehr seltsam.
    »Weißt du, er schreibt gar nichts Besonderes, es ist einfach alles wieder an seinen Platz gerückt. Er ist ein kluger Mann, er hat alles verstanden. Wir können doch nicht getrennt leben.«
    An diesem Tag stand Olga auf und schlurfte bis zur Kantine.
    So etwas soll ja vorkommen: Im Organismus schaltet sich eine Art Notprogramm ein, ein blockierter Mechanismus läuft wieder, etwas wird erneuert, belebt, weiß der Teufel was … Gott weiß was … Das Gleiche, das bei Wunderheilungen geschieht. Die Heiligen, die im Namen unseres Herrn Jesus Christus Wunder tun, verstehen nichts von Biochemie, und die Biochemiker, die bestens Bescheid wissen über die zerstörerischen Prozesse bei Krebserkrankungen, haben keine Ahnung, welchen geheimen Knopf zum Einschalten dieses Notprogramms Ioann von Kronstadt oder die heilige Matrona einst drückten.
    Nach Neujahr kehrte Olga nicht ins Krankenhaus zurück. Sie behandelte sich selbst, wie eine kranke Katze, die in den Wald läuft und Heilkräuter frisst. Olga war nun ständig umgeben von Heilern und Quacksalberinnen, sie empfing einen berühmten Kräuterkundigen aus dem Pamir, schluckte diverse Aufgüsse, Schlamm von heiligen Orten und trank Urin. Auch Wahrsagerinnen kamen zu ihr und Kartenlegerinnen. Wo trieb sie die nur auf?
    Antonina Naumowna, die sich mit dem Gedanken an den baldigen Tod der Tochter abgefunden hatte, war äußerst verwirrt. Tod durch Krebs war begreiflicher als eine Heilung durch so obszön rückständige Methoden. Die Ärztin, die das baldige Ende vorhergesagt hatte, besuchte Olga mehrfach zu Hause, untersuchte sie, tastete sie ab, bat sie, Bluttests und andere Untersuchungen vornehmen zu lassen, aber die Patientin lächelte wieder rätselhaft und schüttelte den Kopf: nein, nein …Wozu?
    Die Ärztin verstand das nicht. Ein derartiges Karzinom löste sich nicht einfach auf. Sie tastete die Achselhöhlen ab, drückte auf die Leistengegend. Die Schwellung der Lymphknoten war zurückgegangen. Aber wenn es sich um einen Zerfall handelte, müsste eine Vergiftung eintreten. Olga aber war kaum noch gelb und hatte sogar zugenommen. Eine Remission? Woher? Warum?
    Nach einem halben Jahr ging Olga wieder aus dem Haus, und ihre Freundin Tamara kam immer seltener zu Besuch. Tamara war ein wenig gekränkt, dass Olga das ihr widerfahrene Gotteswunder nicht recht würdigte. Wieder und wieder redete sie auf Olga ein, sie solle sich taufen lassen, wenigstens aus Dankbarkeit für das Wunder, das ihr geschah. Olga lachte fast wie früher, ihr kindliches Lachen mit den Schluchzern.
    »Brintschik, du bist eine kluge, intelligente Frau, eine große Wissenschaftlerin, warum nur hast du dir einen so albernen Glauben ausgesucht, einen Gott, der von den Menschen Dankbarkeit erwartet, sie bestraft wie ungezogene Welpen oder sie mit Zuckerbrot belohnt? Wärst du wenigstens Buddhistin geworden oder so …«
    Tamara war beleidigt und

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