Das gruene Zelt
verstummte, stellte aber in der Kirche trotzdem Kerzen für die Gesundheit der kranken Olga auf und schrieb Fürbittgebete. Und obwohl sie gekränkt war, bemerkte sie doch eine wichtige Veränderung: Olga sprach nicht mehr von Ilja. Überhaupt nicht mehr. Weder gut noch schlecht. Wenn Tamara selbst einmal das Gespräch auf ihn brachte, wich Olga aus.
»Es ist alles in Ordnung! Er hat schon eine Entscheidung getroffen, jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit. Reden wir nicht davon.«
Und auch das war ein Wunder. Nach so vielen Monaten ununterbrochenen Redens nur über ihn, nur über ihn …
Ganz beschäftigt mit ihrem erneuerten Leben, nahm Olga Kostjas Heirat kaum wahr. Kostja war ausgezogen und lebte nun im Vorort Opalicha, bei seiner Schwiegermutter, und bald bekamen die Kinder Kinder – einen Jungen und ein Mädchen, Zwillinge. Olga war gerührt, aber nur kurz. Sie hatte keine Energie für etwas anderes als ihre Genesung. Dafür brauchte sie ihre ganze seelische Kraft.
Obwohl die Krankheit zurückwich, bekämpfte Olga sie unermüdlich weiter. Auf den Fensterbrettern im Esszimmer sprossen Weizenkeime, sie aß kein Brot aus Sauerteig, buk sich Fladen aus Schrot und Kleie und brühte Kräuter mit »Silberwasser« auf. Auf dem Fensterbrett standen zwei Krüge, in denen silberne Löffel standen, um ihre Heilkraft an das Leitungswasser abzugeben.
Die undurchschaubare Vorsehung hatte an etwas gerüttelt, etwas neu justiert und wieder festgeschraubt, und im Laufe eines Jahres kam Olga fast gänzlich in Ordnung, nahm wieder Arbeit an und hämmerte mindestens sechs Stunden am Tag auf der Schreibmaschine. Sie lebte nun mit ihrer Mutter allein in der großen Wohnung.
Olga war so auf sich selbst konzentriert, genauer, auf die versprochene gemeinsame Zukunft mit Ilja, dass ihr gar nicht auffiel, wie Antonina Naumowna immer dünner und gelber wurde. Wahrscheinlich hatte sie nun eben jene Krankheit, die von der Tochter abgelassen hatte. Auch bei ihr begann es mit dem Magen und griff dann auf den Darm über.
Als das geschah, pflegte Olga ihre Mutter kundig und mit großer Aufmerksamkeit. Dabei fühlte sie sich seltsam – als pflegte sie sich selbst. Denn noch vor kurzem war all das ihr selbst widerfahren.
Nie zuvor waren sie einander so nah und so zugetan gewesen. Olga freute sich, dass sie nicht mit Ilja emigriert war, dass sie nun ihrer Mutter die Hand streicheln und ihr Brühe kochen konnte, die sie vermutlich gar nicht trinken würde, ihr das Laken wechseln und die Mundwinkel abwischen. Antonina bat ihre Tochter ständig, sie ins Krankenhaus zu bringen, aber Olga lächelte nur.
»Mamotschka, das Krankenhaus verkraftet nur ein sehr gesunder Mensch. Geht es dir zu Hause etwa schlecht? Nein? Dann vergiss das Krankenhaus.«
Antoninas Verstand ließ nach. Sie vergaß große Teile ihres Lebens, andere hingegen, kleine, tauchten plötzlich wieder auf. In ihren letzten Lebenstagen sprach sie nur über weit Zurückliegendes: Wie die Hühner ihrer Großmutter alle am selben Tag gestorben waren, wie das Pferd durchgegangen war und sie und ihre Mutter aus dem Schlitten geworfen hatte, und als Letztes – wie sie Afanassi auf der Parteischule kennengelernt hatte. An alles, was danach folgte – Redaktionssitzungen ihrer Zeitschrift, Sitzungen im Gebietskomitee der Partei, Präsidiumssitze, Vorträge, Konferenzen – an all das erinnerte sie sich nicht. Nur an kleine Familiendinge.
»Ach, mit meinem Kopf stimmt etwas nicht, irgendwas ist verdreht«, flüsterte sie und versuchte angestrengt, sich an kürzliche Ereignisse zu erinnern. »Als wäre alles in ein großes Loch gefallen.«
In ihrem Zimmer, im grünen Licht der Schreibtischlampe, starb sie ganz allein, ohne Qual und ohne Bewusstsein, nachdem sie recht deutlich gesagt hatte: »Mama, Mama, Batja …«
Aber diese Worte hörte niemand. Am Morgen fand Olga ihre Mutter kalt und rief sofort im Schriftstellerverband an – dort gab es einen speziellen Bestattungsdienst.
Alles wurde auf das würdigste abgewickelt. Eine Grabstelle war bereits vorhanden, auf dem Wagankowo-Friedhof, neben ihrem Mann, dem General.
Die Beerdigung war furchtbar bitter. Nicht, weil es Tränen gab und Schluchzen, Trauer und Kummer und vielleicht sogar ein schreckliches Gefühl von Schuld. Im Gegenteil. Keiner der Anwesenden weinte oder zeigte Trauer, ja, nicht einmal einfaches Bedauern. Leicht verfrorene Gesichter, würdevoll, dem Anlass angemessen.
Kostja kehrte nach dem Tod der Großmutter nach
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