Das Habitat: Roman (German Edition)
er eine Ausbildung begann. Bei mir war alles klar. Meine Zukunft war bereits fest vorgezeichnet. Ich sollte eines Tages die Farm meiner Eltern übernehmen, die zudem wohl die größte und schönste im gesamten Landkreis war. Das stand nie zur Diskussion. Wenngleich auch meine Träume insgeheim ganz anderer Natur waren, doch es wäre mir – zu jener Zeit zumindest – niemals in den Sinn gekommen, die Traditionen der Gemeinschaft in Frage zu stellen.
Malcolm aber war der zweite Sohn des örtlichen Schuhmachers. (Was ungeheuer selten war. Die wenigsten Familien hatten mehr als ein Kind – viele Paare bekamen überhaupt nie eines, so sehr sie auch um Gottes Beistand beteten.) Malcolms Bruder Rory würde die Werkstadt des Vaters einmal übernehmen. Malcolm selbst, so jedenfalls hatte ich bis jetzt immer angenommen, würde wohl bei einem der örtlichen Handwerksmeister in Lehre gegeben werden. Eines Tages würde er sicher mehrstöckige Häuser bauen, oder ein ganz neues Mühlrad entwerfen. So zumindest hatte er es sich immer ausgemalt. Und ich musste zugeben, sein technisches Verständnis überragte meinen Horizont bei weitem.
Wie oft waren wir zusammen gesessen, in unserer „Geheimen Residenz“ – wie wir es nannten. (Malcolm hatte den Namen aufgebracht. Ich hatte damals keine Ahnung was das Wort Residenz überhaupt bedeutete, allerdings hätte ich das niemals zugegeben.) Draußen, im alten Rosedale–Haus, in einem der unteren Zimmer, hatten wir sie uns eingerichtet.
Noch heute erinnere ich mich an lange regnerische Nachmittage, an denen Malcolm mir, mit leuchtenden Augen, Vorträge gehalten hatte, über die Gesetze der Hebelwirkung, die Faszination von statischen Berechnungen und dergleichen Dinge mehr. Obwohl er sich größte Mühe gegeben hatte, mir alles plausibel zu erklären, habe ich doch oft genug nicht verstanden, wovon er eigentlich sprach. Auch muss ich zugeben, dass ich sein Interesse an derartigen Dingen nicht wirklich teilte. Ich habe aber immer versucht, mir das nicht offen anmerken zu lassen.
Den größten Teil seines Wissens hatte er wohl aus dem Stapel alter modriger Bücher, den wir eines Tages, in einer halbverrotteten Truhe, auf dem brüchigen Dachboden des Rosedale–Hauses, gefunden hatten. Die Bücher stammten zweifellos noch aus der Zeit vor dem Neubeginn.
Mein erster Impuls war natürlich sofort gewesen, sie Pater O’Malley zu bringen. Dieser hätte, nach Sichtung, sicher umgehend dafür gesorgt, dass sie sofort vernichtet würden.
In der Tat gab es nur sehr wenige Bücher aus der dunklen Zeit vor dem Neubeginn, die den kirchlichen Segen für Unverderbte Wahrheit trugen. Die Bibel war natürlich eines von ihnen, sowie alle von der Dreifaltigkeit anerkannten religiösen Schriften. Doch nur den Geistlichen war es erlaubt, darin zu lesen. Aber auch eine ganze Reihe von Romanen, die von dem glücklichen Leben in bäuerlichen Gemeinschaften des alten Irland zu erzählen wussten, hatten diesen Segen erhalten. Bücher, wie wir sie hier gefunden hatten, waren zwar nicht ausdrücklich verboten – und niemand würde dafür bestraft werden, sie zu besitzen – doch galten sie gemeinhin als verderbt, so dass es also mehr oder weniger auf das Selbe herauskam. Denn niemanden wäre es auch nur im Traum eingefallen, die kirchlichen – und somit die gesellschaftlichen – Lehren der Unverderbten Wahrheiten anzuzweifeln. So zumindest glaubten wir damals noch.
Die meisten dieser verwitterten Schwarten, die wir da gefunden hatten, mochten wohl alte Schulbücher gewesen sein, die irgendwann nicht mehr gebraucht worden waren, und so schließlich ihren Weg in die Vergessenheit des Dachbodens gefunden hatten. Den wenigsten davon schenkte ich große Beachtung. Bücher mit Titeln wie „Mathematik II Ausgabe B“, „Biologie I – Stoffwechsel“, sowie viele weitere, deren Titel mindestens genauso nichtssagend waren.
Eines jedoch hatte sofort meine Aufmerksamkeit erregt. Ein Band, der noch abgegriffener wirkte als der Rest dieser schäbigen Bücher. Auf dem verwitterten Deckel war ein Mann mit einem langen Bart und zerschlissener Kleidung abgebildet. Das alleine aber hätte meine Neugier wohl kaum zu wecken vermocht. Was mich daran fasziniert hatte, war das Meer im Hintergrund gewesen, sowie ein halbversunkenes Schiff; in den verblassten Farben, gerade noch als solches zu erkennen. Sofort war meine Sehnsucht nach Reisen, in weitentfernte Gebiete, wieder entfacht. Das unstillbare Fernweh, das mich seit
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