Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das hätt' ich vorher wissen müssen

Das hätt' ich vorher wissen müssen

Titel: Das hätt' ich vorher wissen müssen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
Vom Netzwerk:
meine wohlstandsgeschädigten Nachkommen ihre Wünsche äußerten, zum Beispiel bei Schuljahresbeginn.
    »Also: Ich brauche acht DIN-A4-Hefte liniiert mit Rand, sechs ohne, vier karierte mit, zwei Studentenblocks, zwei Vokabelhefte, eine Packung Filzstifte, zwei Tintenkiller, vierzehn Umschläge in Rot, Grün, Schwarz, Blau…« Und das war nur einer von fünf!
    Wagte ich gelinden Protest und erwähnte meine eigene Schulzeit, während der ich jahrelang meine Matheaufgaben auf Zeitungsrändern und alten Telefonbüchern hatte lösen müssen, dann genoß ich minutenlang ungeteilte Aufmerksamkeit. »Erzähl mal, wie haste denn das gemacht?«
    Oder wenn beim Abendessen die sechs Wurst- und vier Käsesorten nicht genügten, weil man ausgerechnet heute Appetit auf Ölsardinen hatte, und mir endlich der Kragen platzte: »Vor dreißig Jahren wäre ich froh gewesen, wenn ich mal etwas anderes bekommen hätte als künstlichen Brotaufstrich!« – Dann kamen wieder erstaunte Fragen. »Künstlicher Brotaufstrich? Was ist das? So was wie Nutella?«
    Mir wurde klar, daß die Jugendlichen über den Krieg eigentlich gar nichts wußten. Natürlich kannten sie die geschichtlichen Fakten, konnten Namen und Zahlen nennen, aber sie hatten keine Ahnung vom Alltagsleben. Sie hatten zwar von Lebensmittelkarten gehört und von Verdunklungsvorschriften, aber das waren für sie abstrakte Begriffe geblieben, die sie auch in ihrer Phantasie nicht realisieren konnten.
    »Was heißt Verdunklung? Da läßt man einfach die Rolläden runter. Machen wir doch jeden Abend.«
    »In einer Berliner Mietwohnung gab es aber keine. Da mußten wir schwarze Papierrollen kaufen, über den Fenstern befestigen und bei Beginn der Dämmerung vorsichtig herablassen.«
    »Hat das wirklich funktioniert?«
    »Eben nicht! Spätestens nach vier Wochen war das Zeug kaputtgerissen.«
    »Da habt ihr jeden Monat neue kaufen müssen?«
    »Ja. Vorausgesetzt, man kriegte noch welche. Papier war knapp. Später sind wir auf Wolldecken umgestiegen. Meine Mutter ist bei so einer Kletterpartie mal vom Fensterbrett gestürzt und hat sich den Arm gebrochen.«
    »Erzähl!«
    Und dann erzählte ich. Von Geburtstagsfeiern im Luftschutzkeller, von der Kinderlandverschickung in die Tschechoslowakei, von der berühmten Schulspeisung – Kekssuppe mit Zellophanpapier-Einlage –, vom selbstgenähten Badeanzug aus Fallschirmseide und der abenteuerlichen Ferienreise nach Rügen.
    Selten habe ich so aufmerksame Zuhörer gehabt wie in jenen Stunden. Svens und Saschas Freunde, die in der Regel wie Bienen um den Honigtopf durch unser Haus schwirrten, bekamen plötzlich Sitzfleisch, sobald wieder einmal die Rede auf meine eigene Kindheit kam. Andi, dank seiner permanenten Anwesenheit schon fast zu meinem sechsten Kind ernannt, erklärte mir einmal rundheraus: »Ich kann mir nicht helfen, aber Sie müssen einen ganz anderen Krieg erlebt haben. Wenn mein Opa davon spricht, dann erzählt er immer bloß, wie er in Frankreich einen Champagnerkeller ausgeräumt und sich fürchterlich besoffen hat. Und Oma jammert noch heute, daß die Marokkaner ihr beim Einmarsch das ganze Silber geklaut haben. Dann schüttelt sie den Kopf und sagt: ›Es war eine schlimme Zeit damals.‹«
    Natürlich ist es eine schlimme Zeit gewesen. Besonders für die Älteren, die sich noch an Nächte ohne Bombenalarm erinnern konnten, an Tage ohne Schreckensmeldungen – eben an den Frieden. Für mich jedoch, die ich bei Kriegsausbruch fünf Jahre alt gewesen war, gab es in der Erinnerung keine »normale« Zeit. Rationierte Lebensmittel waren für mich genauso normal gewesen wie keine Seife zu haben, abends beim Licht einer blakenden Kerze zu sitzen und Maismehlbrei mit Süßstoff als Inbegriff alles Köstlichen zu empfinden. Und trotzdem würde ich niemals behaupten, meine Kindheit sei armselig gewesen, ich sei zu bedauern, weil ich doch nicht kindgerecht hätte aufwachsen können (Blödsinn, meinen Teddy mit den Hosenknopfaugen hätte ich auch gegen die schönste Barbiepuppe nicht eingetauscht), und überhaupt gehörte ich doch zu der bemitleidenswerten Generation, die so gar nichts von ihrer Jugend gehabt habe. Auch Blödsinn! Wir waren alle Optimisten, selbst wenn wir statt Pullis von Esprit nur selbstgeschneiderte Blusen aus gefärbten Bettlaken anziehen konnten.
    Auf diesen Erwägungen heraus entstand das Manuskript zu »Pellkartoffeln und Popcorn«. Die Ankündigung wurde vom Verlag dankbar begrüßt. Kriegsromane würden auch

Weitere Kostenlose Bücher