Das halbe Haus: Roman (German Edition)
hierzulande – auf ein Auto, auf Apfelsinen, auf eine Wohnung, auf einen Menschen, dass der Sozialismus zum Kommunismus wird, dass das Leben beginnt oder einfach nur irgendwas passiert. Und so viele Parolen, immerzu soll man sich den Worten beugen.
Eva öffnet die Tür: »Endlich seid ihr da! Wir haben ewig auf euch gewartet!«
Jenny und Leonore schieben sich an ihr vorbei, rote Baskenmützen auf den Köpfen und Reisetaschen über den Schultern. »Warnemünde wartet nicht, kleener Lord«, sagt Jenny zu Jakob und gibt Frank einen Kuss. Leonore begrüßt Jakob mit einem lächelnden »Hallo!«.
Frank streicht seinem Sohn über den Kopf und sagt: »Mach es gut, mein Großer, und geh nicht so steckensteif über den Laufsteg. Am Montag will ich Erfolgsmeldungen hören!«
Während die anderen die Treppe hinunterpoltern, sieht er Eva an, und sie sieht ihn an. Im Schreiben sind sie sich nah, in der Wirklichkeit müssen sie die Nähe immer wieder neu errichten. Eva gibt ihm einen flüchtigen Kuss und lässt ihn gar nicht erst in Jennys Wohnung, die ihnen für das Wochenende zur Verfügung steht. »In einer halben Stunde haben wir die erste Besichtigung, auf der Fischerinsel«, sagt sie.
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Der Mann im blauen Pullover horcht dem Tuten nach, das so laut ist, dass du es auch hörst, und legt den Hörer auf. Er sagt, es sei noch zu früh. Ihr möchtet bitte warten, bis jemand von der Rechtsabteilung kommt, sagt er und führt euch in die niedrige Eingangshalle. Unter dem Fenster zur Straßenseite befindet sich eine Sitzecke. Ihr versinkt in den Polstern. Es gibt einen Kaffeeautomaten und drei Standaschenbecher. Auf niedrigen Tischen liegen Westzeitungen und -zeitschriften aus, in silbernen Bechern stecken Zigarettensträuße. Du arbeitest dich aus dem Polster hoch und angelst dir eine Stuyvesant. Rüdiger Pfeiffer sagt kein Wort. Er hat sich in ein Magazin vertieft, ein Automobilmagazin. Es riecht nach Westpaket. Du rauchst. Dann nimmst du dir den neuesten SPIEGEL . Schwer und biegsam liegt das Heft in deiner Hand. Du überfliegst das Inhaltsverzeichnis, blätterst die glatten, schimmernden Seiten um. Auf Biegen und Brechen willst du in diese Sechs-Zylinder-Leichtmetall-Welt, diese Piloten-Chronographen-Welt, diese Johnnie-Walker-Postgiro-Spiegelreflex-Welt von bestechender Trinitron-Bildschärfe und Farbechtheit. In dieser Welt sind alle glattrasiert und mit Schwung frisiert, die Männer sind solvent und schuppenfrei, die Frauen haben ein Funkeln in den Augen und gesundes Zahnfleisch. In Karottenhosen und gelben Pullundern spielen oder fahren sie Golf oder bald auch den neuen kleinen Mercedes, der in den nächsten Tagen vom Band rollt. Einen Fuhrpark kann man aber auch leasen, und wenn man als Sekretärin vom Chef eine Flasche Tipp-Ex zum Geburtstag bekommt, muss man erst mal einen Jägermeister trinken. Seiko übrigens sagt, dass die Zukunft der Uhr im Quarz liegt. Weiß das der Pfeiffer? Weiß Rüdiger Pfeiffer, der das Automagazin verschlingt wie ein Diabetiker einen Liebesknochen, dass er im Westen arbeitslos sein wird? Und wie wird sich diese Westwelt zu dir verhalten? Diese heitere Welt der formschönen Technik und freundlichen Dunkelbiere? Wird es Arbeit geben für dich? Braucht diese Welt einen Chemieingenieur? Und welchen Menschen wirst du begegnen? Monika Lehnert etwa, die Pommery trinkt und von der PVG -Krankenversicherung auch am Strand von Malindi geschützt wird? Wirst du dir das Reisen leisten können? Den Frühling in der Türkei, das andere Klima Españas? Wirst du das Leben genießen können, mit einem großen Scotch in der Hand? Wirst du über der Gegenwart die Zukunft nicht vergessen und dich absichern für ein sorgenfreies Alter, etwa mit Bundesschatzbriefen, denn da werden aus einem Tausendmarkschein in sieben Jahren 1693 Westmark? Was wird in sieben Jahren sein? Was in siebzehn und siebenundzwanzig? Was wird aus der Vergangenheit bei all der Zukunft? Geht es allein um eine bessere Zukunft, oder geht es nicht auch um eine bessere Vergangenheit? Wer wird sich um das Grab kümmern, und was wird aus Eva und was aus Jakob – mein Gott, Eva. Du atmest aus und blätterst weiter. Zwischen Autos und Alkohol, Tabak und Technik sind bleigrau die Politik und die Gesellschaft gezwängt. Das ist dir jetzt zu mühsam, du willst das Heft weglegen, aber dann zwingst du dich dazu, die Nachrichten zu lesen, die euch vorenthalten werden. Darum geht’s dir doch, das sollte dir doch keine Mühe bereiten. Es kommt dir
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