Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Jakobs Vater. Vom Ehesymbol, das sie mit Horst verband, zog sie einen Strich und schrieb neben Rudolf: » * 1946 Frank«. Sie wusste sich keinen anderen Rat. Neben Franks Daten malte sie wieder Eheringe und schrieb: » * 1948 Friederike † 1972«. Unter den Ringen gab es einen weiteren Strich und die Information, dass ein gewisser Jakob 1969 das Licht der Welt erblickt hatte. Das war dieser Zweig. Zu guter Letzt strich sie die verschränkten Ringe zwischen » * 1914 Polina, geborene Sauer« und » * 1907 Horst Friedrich † 1945« durch, malte neue Ringe links neben ihren Namen und schrieb » * 1904 Paul Winter † 1963« an die Kante des schwarzen Kartons. Ihr Sohn Siegmar (» * 1950«) heiratete Inge, ihr jüngster Enkel hieß Mario. Das war der Baum ihrer Familie. Tote und beschnittene Zweige, keine starken Triebe und keine reiche Frucht. Jakob hatte die Zeichnung lange betrachtet. »Irgendwann wird das Album mal dir gehören«, hatte Polina gesagt. »Dann kannst du damit machen, was du willst. Mal sehen, wen du so dazuholst und mit deinem Namen in Verbindung bringst. Ist ja noch ein bissel Platz.«
Nach und nach treffen die anderen ein. Am Schluss stehen acht Wodkaflaschen auf dem Fensterbrett. Zum Schälen der Kastanien wird die erste Flasche geöffnet. VEB Likörfabrik Zahna/Bezirk Halle.
Im Hinterhof von Rudolfs Mietshaus wachsen drei alte Esskastanien. Im Oktober musste Marion jeden Morgen vor dem Frühstück hinunterrennen, um vor allen anderen Bewohnern die Kastanien einzusammeln. Jetzt stehen zwei volle Stiegen auf dem langen Tisch, der aus Bohlen und Böcken von Mo und Frank gebaut wurde und von Wand zu Wand reicht. Alle finden Platz an diesem Behelfstisch. Auch Franks Freunde Mo, Jasper und Cora, die einfach dazugehören. Ebenso wie Anita, Franks Mädchen für alles, eine reizende Person. Auf seine Momentane, die blasse Almut, hätte Polina gern verzichtet. Almut sagt: »Mutter, wer soll das alles essen?« Sie sagt »Mutter« und weiß noch nicht, dass sie bald Geschichte ist.
Die einen sind die Akkuraten, die Bedächtigen. Sie schlitzen Kreuze in die Maronen, damit sich deren Schalen nach dem Rösten gut lösen lassen. Sie werfen die Maronen in die gusseiserne Pfanne, die Polina sogleich auf den glühenden Herd stellt, bevor sie die angerösteten und aufgesprungenen Kastanien in die Schüssel kippt, die vor den anderen steht, den Tollkühnen. Die legen die weißgelben Kerne frei, kleinen Hirnen gleich, und werfen sie schnell in einen großen Topf, auf dessen Grund zerlassenes Gänsefett schwimmt. Sie werfen die heißen Kastanien von sich und blasen sich auf die Fingerkuppen, sie fluchen, wenn sich die pelzige Haut nicht lösen lässt, sie lachen und trinken eiskalten Wodka. Die, die schlitzen, sind die Vernünftigen: Edelgard und Almut, Siegmar und Inge. Die anderen, die pellen, pusten und fluchen, das sind die Draufgänger, die Abenteurer: Frank und seine Freunde Mo, Jasper, Anita und Cora. Und Jakob. Polina, Rudolf und die anderen Kinder gehören keiner der beiden Gruppen an.
Als sie ein kleines Mädchen war, gingen die Maroniröster von Haus zu Haus. Über all die Jahrzehnte hatte sie es vergessen, jetzt fliegt ihr diese Erinnerung zu. Es waren Juden in struppigen Pelzmützen und in Lumpen gekleidet. Die Kastanie ist in der Wolke, in der Glut, die Blicke stecken in den Schalen. Seit Neuestem drängen sich ihr die Bilder von früher auf. Sie will es nicht, die Vergangenheit ist die Vergangenheit, sie ist nicht wichtiger als die Gegenwart oder die Zukunft, im Gegenteil. Es ist gut, wenn die Vergangenheit ruht, festgewachsen an einem Stammbaum. Aber in der letzten Zeit haben sich die Bilder gelöst, und sie flattern ihr um den Kopf wie Laub im Herbstwind.
Nach dem Essen muss gesungen werden. In der Küchenwärme ist das Eis auf dem Fensterglas geschmolzen, Tau liegt auf den Scheiben. Vier volle Wodkaflaschen stehen auf dem Fensterbrett und vier leere auf der Tafel. Halbzeit. Im Skelett der Gans schimmert die Füllung silbergrau. In der Küche ist kaum genug Platz, den Balg des Akkordeons auszuziehen. Rudolf sitzt da mit hängenden Schultern, sein Haar wächst büschelweise auf dem Kopf, Stahlwolle zwischen all den Narben. Seine rechte Hand liegt in seinem Schoß wie eine tote Taube. Frank schnallt ihm das Schifferklavier um, ein Weltmeister mit achtzig Bässen, der Korpus wie Muschelpatt. Jakob hält die Klaviatur, und Frank bewegt den Balg, indem er die Lasche auf der Bassseite
Weitere Kostenlose Bücher