Das halbe Haus: Roman (German Edition)
greift, zieht und drückt. Rudolf spielt eine Bassbegleitung. Es sind die Bässe zu »La Paloma«. Jakob fügt die Melodie hinzu, und Cora und Mo fangen an zu singen. »Ein Wind weht von Süd / Und zieht mich hinaus auf See.« Zuerst singen sie zu laut und zu komisch, dann immer schöner. Weil Cora den Text nicht mehr weiß, springt Frank ein. »Mich trägt die Sehnsucht fort / In die blaue Ferne, / Unter mir Meer / Und über mir Nacht und Sterne.« Den letzten Refrain singen sie zusammen, zweistimmig, Cora kann so was. Auch Rudolf bewegt die Lippen, kein Strahlen, aber ein Lächeln. »Auf, Matrosen, ohe! / Einmal muss es vorbei sein. / Einmal holt uns die See, / Und das Meer gibt keinen von uns zurück. / Seemanns Braut ist die See, / Und nur ihr kann er treu sein. / Wenn der Sturmwind sein Lied singt, / Dann winkt mir der Großen Freiheit Glück.«
Polina muss sich umdrehen. Sie denkt daran, wie schön Rudolf allein gespielt hat, als Junge unter dem Birnbaum. Und er konnte gut zeichnen, mit Kohle und Tusche. Das war ihm von Nutzen, als er Stuckateur lernte. Er hat eine von zwei Lehrstellen ergattert. Er war auch ein guter Fechter. Das Strahlen war schon in seinem Gesicht, wenn er die Maske herunterriss und die Arme in die Luft warf. Nun ist er ein Stück Gemüse, eine Pampelmuse, feuchter Kehricht. Wie es ihm gehe? Gut gehe es ihm, denn Unkraut vergehe nicht.
Jetzt hat Frank das Akkordeon allein und spielt »Lili Marleen«. Die Bilder lösen sich und stürzen übereinander, Männer in Uniformen, ein charmanter mit Sternen auf der Schulter, er spielt Klavier, seine Mütze sitzt schief auf ihrem Kopf, der zerkratzte Tanzboden, die Müdigkeit, weckt mich auf in einem Jahr, die Russen sind keine Menschen. Dann spielt Frank »Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst«. Ihre Schwester ist verschieden, ihr Bruder ist verstorben, ihr Vater wurde verwundet und ist gefallen. »Verschieden«, »gefallen«, »verwundet« und »verstorben«, das sind unsinnige Worte. Verreckt und verkrüppelt, so soll man sagen. Ihr Bruder hieß Arthur, und ihr Vater hieß Waldemar. Ihre Schwestern hießen Anni, Betty, Martha, ihre Mutter Katja hieß eigentlich Katharina. Sag die Namen. »Nun hast du drei Buben«, sprach Katja zu ihr, als sie mit Siegmar im Wochenbett lag. Er hatte dichtes schwarzes Haar, und sein Rücken war mit einem dunklen Flaum bedeckt. »Eines hätt’ ja auch sein können ein Mädel.« Dieses Mädel, das sie selbst einmal war, hat ihr immer gefehlt.
Als sie jung war, war alles unordentlich gewesen, der Krieg und die Sache mit den Männern. Es wurde übersichtlich, nachdem sie ein letztes Mal geheiratet hatte, Paul, Siegmars Vater. Nachdem Paul gestorben war, und auch Friederike, wurde es noch übersichtlicher. Es gab nur noch sie, Jakob und Frank. Großmutter, Enkel, Sohn. Das halbe Haus, den Garten. Die anderen Söhne und ihre Familien kamen zu Besuch. Kaffee und Kuchen auf dem Rondell unterm Birnbaum. Es gab den Dienst, die Jahreszeiten, die Gräber. Der Frühling verging, der Sommer war nicht heiß. Manchmal gab es federleichte Tage, da lastete nichts auf ihr, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Das waren die besten Tage. Alles war in Ordnung.
Frank, der ihre Ordnung zerstört hat, spielt weiter Akkordeon. Er singt: »Leben einzeln und frei wie ein Baum und dabei brüderlich wie der Wald, diese Sehnsucht ist alt.«
»Seit wann spielst du Kommunistenlieder?«, sagt Siegmar, als Frank den Balg zuschiebt und verschließt.
»Wenn mir danach ist, spiele ich auch Kommunistenlieder«, sagt Frank und trinkt.
»Die haben gute Lieder«, sagt Jasper. »Gute Märsche, gute Hymnen. Die wissen, wie sie die Menschen kriegen. Die Kirche hat auch gute Lieder.«
»Die besten Lieder haben die Amis«, sagt Frank. »Blues, Folk, Jazz. Dylan.«
»Der kleine Trompeter ist auch nicht schlecht«, sagt Jasper. Er meint es nicht.
»Wie viele kleine Trompeter hast du geschnitzt? Fünf? Sechs?«
»Sieben«, sagt Jasper. »Den letzten habe ich für den Wildpark gemacht. Scheißholz, nicht abgelagert, lauter Risse. Ein Eber wär mir auch lieber gewesen. Oder ein Wisent. Ich hab noch nie einen Wisent geschnitzt.«
»Und wie viele Felix Ds? Wie viele Rosas, Karls und Ernsts? Immer denselben Schmus. Hendrix wäre doch auch nicht schlecht, zur Abwechslung.«
»Oder ABBA «, sagt Mo.
»Mann, Mo«, sagt Frank, »du wirst es nie kapieren.«
»Für dich ist alles aus dem Westen Gold, und alles von hier ist Scheiße«, sagt Siegmar
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