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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Das ist nun mal das Karma des Dieners.
    In einem einzigen Augenblick überwanden wir die Entfernung zum Tisch. Ich sprang auf das Tischtuch, trat meinem Gegner nicht sehr heftig gegen das Kinn und sprang auf ihn, als er am Boden lag.
    Der Mann war stark und offenkundig nicht ängstlich. Obwohl halb betäubt, schlug er mit der Faust nach meinem Gesicht. Ich hätte natürlich ausweichen können, tat es aber nicht. Ein Rückzug, selbst ein kurzzeitiger, stärkt nur den Willen des Feindes zum Widerstand. Darum nahm ich den Schlag hin – und es ist ungewiss, was dabei mehr einzustecken hatte: meine Wange oder seine Faust. Allerdingszerkratzte ein Ring an seinem Finger mir die Wange, doch das war ohne Belang.
    Dann setzte ich dem Gestürzten das Knie auf die Brust, presste seine Handgelenke zusammen und stieß zweimal, ebenfalls nicht sehr heftig, meine Stirn gegen seine, damit er begriff, dass Widerstand vollkommen zwecklos war.
    Er begriff es, aber nicht sofort. Er war ein hartnäckiger Gegner, mindestens eine halbe Minute zuckte er und wand sich. Ich wusste bereits, dass es der Doktor war – bei meinem Kopfstoß hatte ein Schnurrbart meine Nase gekitzelt.
    Während ich darauf wartete, dass der falsche Professor aufgab, schaute ich nach meinem Herrn, dem wohl der falsche Verwalter alias Arsène Lupin zugefallen war. Mir bot sich ein aufregendes Schauspiel, das an Schattentheater erinnerte.
    Mein Herr hatte den interessanteren Part als ich. Er hatte seinen Gegner nicht zu Boden zwingen können, und die beiden liefen, Schläge austauschend, um den Tisch herum. Soweit ich das im Dunkeln erkennen konnte, beherrschte Lupin tatsächlich ein wenig die Technik der neumodischen Kampftechnik »bloße Hand«, hatte aber nicht gelernt, mit den Beinen zu kämpfen. Angriffe von oben wehrte er einigermaßen ab, doch Fandorins Beine landeten jedes Mal einen Treffer. Schließlich gelang meinem Herrn ein großartiger Fußfeger [Ashi-Barai], und der Rest war einfach. Ein schönes Uwakiri auf den Kopf, und der Kampf war vorbei.
    Nun gab auch mein Starrkopf ein heiseres Krächzen von sich und sackte zusammen.
    Genau in diesem Augenblick, wie um den Sieg des Gesetzes über das Verbrechen mit einer Festbeleuchtung zu feiern, ging das elektrische Licht wieder an.
    Ich erblickte unter mir das blasse Gesicht von Watson-Sensei mit verdrehten Augen. Und mein Herr presste die Kehle des besiegten Sherlock Holmes.

    XII

    Ich erinnere mich nicht, wer mich hochhob und auf einen Stuhl setzte.
    Mir dröhnte der Schädel. Mühsam öffnete ich die Augen und sah, dass Holmes, der mir gegenüber saß, in keinem viel besseren Zustand war: Die eine Hälfte seines Gesichts war ganz rot, aus seinen dünnen Lippen sickerte Blut, seine Kragen waren zerrissen und zerknittert. Vor ihm stand der unglücklich dreinschauende Fandorin, heil und unversehrt, aber mit einem an der Schulter halb abgerissenen Ärmel.
    Hinter meinem Rücken schnaufte jemand. Ich drehte mich schwerfällig um und erblickte den Japaner. Er verbeugte sich reumütig, murmelte Entschuldigungen und sagte immer wieder: »Keine Velgebung für mich, keine Velgebung.« Über sein Gesicht rann Blut. Er hatte also auch etwas abbekommen. Das besserte meine Laune ein wenig – soweit das in dieser Situation möglich war.
    »Tja«, sagte Holmes ärgerlich und rieb sich eine schmerzende Stelle, »Lupin hat unseren Plan erraten. Wir beide, Mr. Fandorin, hatten doch den gleichen Gedanken, nicht wahr? Aber die Schüsse in der Schlucht waren nicht dazu gedacht, uns aus dem Speisezimmer zu locken, sie sollten uns veranlassen, übereinander herzufallen. Deshalb wurde auch das elektrische Licht ausgeschaltet. Ich kann mir vorstellen, wie sich dieser Franzose jetzt ins Fäustchen lacht.«
    Der Russe antwortete düster: »Sie haben recht, wir haben ihn unterschätzt. Aber vorerst hat er die P-partie nicht gewonnen. Das Geld ist noch hier.«
    Ja, der Sack mit dem Geld lag nach wie vor auf dem Tisch. Ich schaute hinein – der Inhalt war unberührt.
    »Sagen Sie, warum haben Sie nach dem Sack gegriffen?«, fragteFandorin. »Das ließ mich glauben, es seien tatsächlich die Banditen.«
    Noch nie zuvor hatte ich Holmes derartig wütend erlebt. Er zischte die Worte buchstäblich zwischen den Zähnen hervor.
    »Ich musste doch überprüfen, ob er noch an seinem Platz liegt! Ich schwöre bei meinem Leben, diese Demütigung wird Lupin mir büßen!«
    Das sagte er nicht zu uns, sondern zur Decke, und zwar in einem Ton, der

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