Das Halsband des Leoparden
unerwartete Ruck ließ auch die Stute zurückprallen, und der Betrachter der schönen Landschaft konnte gerade noch den Zügel fassen, ehe er kopfüber zum Abgrund flog.
Nun, Abgrund oder nicht, aber an die hundert Meter leeren Raum hatte der hilflos hängende Fandorin unter sich, und der Absturz schien unvermeidlich. Verzweifelt stöhnend stemmte die Fuchsstute alle vier Hufe in den Pfad, aber den Mann konnte sie nicht halten, und mit den Hufen über den Fels rutschend, geriet das Tier immer näher an die Kante.
Fandorin musste den Zügel loslassen. Warum sollte er das unschuldige Geschöpf mit in die Tiefe reißen?
Ein richtiger Mann gibt niemals auf, selbst wenn die Niederlage unausweichlich ist. Diese Erwägung, den Tod hinauszuschieben, ließ Fandorin eine aus der Felswand ragende Wurzel ergreifen; und der Zügel glitt aus der Hand.
Die Wurzel war dürr und tot und konnte die Last natürlich nicht lange halten. Sie brach nicht ab, zog sich aber aus der Erde. Sand und Steinchen rieselten abwärts. Fandorin versuchte, mit der Stiefelspitze einen noch so kleinen Vorsprung zu ertasten, aber der Fuß glitt immer wieder ab.
In den vergangenen Jahren hätte der Weg des Hätschlings Fortunas schon Dutzende, wenn nicht Hunderte Male abbrechen können, noch dazu unter vernünftigeren Umständen, aber das Schicksal folgt bekanntlich eigenen Erwägungen, und mit ihm zu hadern macht wenig Sinn. Jetzt würde er ein dummes Ende finden, doch zumindest ein schönes: Im Fluge zu sterben und dem Leben noch »danke« und »lebwohl« zu sagen ist nicht das scheußlichste Finale.
»Danke …«, murmelte er, kam jedoch nicht weiter, denn über ihm zeigte sich die finstere Visage von Melvin Scott, und seine kräftige Hand packte den todgeweihten Fandorin am Gelenk.
»Zwecklos«, krächzte der durch die zusammengebissenen Zähne, »ich zieh dich mit runter …«
»Ich halte mich an einem Stein fest«, antwortete der Pink ebenso gepresst.
Aus seiner Westentasche hing schwankend und blitzend ein goldenes Kettchen, schön wie das entgleitende Leben.
Endlich fand der Fuß einen festen Halt, an einem Stein wohl.
»Jetzt langsam, ohne Ruck.« Scott zog Fandorin hoch. »Sachte, sachte …«
Gleich darauf saßen die beiden am Rande des Abgrunds, ließen die Beine baumeln und atmeten schwer. Scott blickte nach unten, Fandorin nach oben. Wieder einmal war der Tod ausgeblieben.
»Danke«, sagte er laut, »ohne dich wäre ich abgestürzt.«
»Mit einem ›danke‹ kommst du nicht davon.« Der Pink stand auf, klopfte sich die Hose ab. »Ich habe was gut bei dir. Für den heutigen Tag musst du die doppelte Taxe zahlen. Ich finde das gerecht. Was meinst du?«
Fandorin nickte. Er war erschüttert. Noch nie war sein Leben auf fünf Dollar veranschlagt worden.
Scott lächelte erfreut.
»Na prima. Außerdem hast du mir einen Aufschlag versprochen,wenn ich dich zu der Bande führe. Ich glaube, ich weiß, wo ihr Schlupfwinkel ist. Komm, ist nicht weit.«
Etwa eine halbe Stunde stiegen sie den Pfad bergan, der führte sie auf ein schmales Plateau: Rechts war noch immer der Abgrund, aber bis zur nächsten Bergstufe erstreckte sich eine ebene Fläche voller Findlinge. Vorn ragten die Felsen wie eine dichte Wand empor, anzusehen wie die Türme einer gotischen Kathedrale.
»Ich hatte recht. Sie stecken in der alten Goldmine. Gemütliches Plätzchen. Streck nicht den Kopf raus!« Scott drückte Fandorin nieder und blieb selber in der Deckung eines Steins. Die Pferde hatten sie hinter der letzten Wegbiegung gelassen. »Da ist ein Posten.«
»W-Wo denn?«
»Siehst du die beiden Finger?«
Fandorin sah in der Felswand so etwas wie eine Lücke, zu deren Seiten zwei schmale Steinsäulen das Zeichen V bildeten, das die Amerikaner so gern mit ihren Fingern zeigen.
»Schau durch dein Fernglas. Nein, weiter unten.«
Fandorin war seit langem nicht mehr gewohnt, die Rolle des Dilettanten zu spielen. Er hatte vergessen, wie wohltuend es ist, einen erfahrenen Menschen bei sich zu haben, der besser weiß, was zu tun ist.
Mit dem Glas suchte er die graue Felswand ab und stieß auf ein schwarzes Fleckchen. Er fokussierte das Bild.
Ein Hut. Ein schwarzes Tuch vor dem Gesicht. Ein blinkender Gewehrlauf.
Der linke »Finger« hatte in der Mitte eine Einbuchtung, darin saß der Wachposten. Ohne den Pink würde Fandorin ihn nicht bemerkt haben.
»Die Arbeit ist getan«, erklärte Scott zufrieden. »Ich kriege von dir fünfzehn Böcke: fünf für den Tag,
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