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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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Imbißbuden, und mehr brauchte es nicht, schon stand sie am Hansaplatz, war eine von den dort Gestrandeten, noch bevor ihr Leben begonnen hatte.
    Marlene erzählte das sicher nicht zum ersten Mal, und von allem, was sie in ihrer Empörung noch von sich gab, ist mir später am besten in Erinnerung geblieben, wie sie darüber zeterte, daß sich auch die größten Proleten von ihr manchmal hätten siezen lassen, um sie im selben Atemzug ungeniert Kindchen und Kleines und was nicht sonst noch zu nennen.
    »Du wirst kaum glauben, was sie mir über die Kerle alles anvertraut hat«, fuhr sie fort. »Oder kannst du dir vorstellen, daß manche von ihnen sie nur haben weinen sehen wollen?«
    Ich sprach ihr vor Überraschung Wort für Wort nach.
    »Sie haben sie nur weinen sehen wollen?«
    Ich hätte gar nicht hinzusehen brauchen, als sie es noch einmal bejahte, ich wußte auch so, sie machte dabei ähnliche Mundbewegungen wie vorher beim Essen, wo sie darauf geachtet hatte, daß der Lippenstift nicht ihre Zähne verschmierte, nur war es diesmal eindeutig ein Ausdruck von Ekel. Genau die gleiche Ablehnung lag auch in ihrem Schweigen, das darauf folgte, und als sie merkte, wie ich auf die Spuren an ihrem Glas starrte, nahm sie ihre Serviette, wischte sie damit penibel weg und ließ mich nicht aus den Augen. Dann schenkte sie sich nach, und ich staunte wieder, wieviel sie an dem Abend getrunken hatte, während sie von neuem auf das Mädchen zurückkam und gar nichts Sentimentaleres hätte tun können, als wortwörtlich von ihrer kleinen Freundin und deren schmutzigen Klienten zu sprechen.
    »Offenbar haben sie ihr von Mal zu Mal dieselben Fragen gestellt, wie es früher bei ihr zu Hause gewesen sei und wie es ihrer Meinung nach später sein würde«, begann sie noch einmal. »Da war es nicht schwer für sie, herauszufinden, daß gerade die scheinbar Besorgtesten unter ihnen sie nur haben weinen sehen wollen, wenn sie sich erkundigten, ob sie irgendwann wieder dorthin zurückginge.«
    Eine Stunde später schluchzte und heulte Marlene selbst wie eine Verrückte, stieß mich mit beiden Händen weg, nachdem sie sich gerade noch an mir festgeklammert hatte, verschränkte ihre Arme vor der Brust, wie wenn sie sich so klein wie möglich machen wollte, und gab auf meine Fragen keine Antwort. Ich war mit ihr nach Hause gegangen und hatte, noch ehe sie in der Wohnung Licht machen konnte, zu ihr gesagt, sie solle sich ausziehen, und ob sie dabei an unser übliches Geplänkel dachte oder nicht, sie hatte ein Kleidungsstück nach dem anderen einfach auf den Boden fallen lassen und sich dann hingelegt, mitten auf den Teppich im Schlafzimmer, war dagelegen, wie sie jetzt wieder dalag, nur vollkommen still, ohne diese Laute von sich zu geben, vor denen ich am liebsten die Ohren verschlossen hätte. Denn längst waren sie zu einem unterdrückten Wimmern geworden, das nicht aufhören wollte, und ich sah im Schein, der von der Straße hereinfiel, daß sie den Kopf weggedreht hatte, und rührte mich nicht, deckte sie zu und schwieg, sagte kein Wort, bis sie eingenickt sein mußte, so ruhig ging auf einmal ihr Atem.
    Halb im Dunkeln kritzelte ich ein paar Zeilen auf einen Zettel, den ich gut sichtbar hinlegte, und war schon an der Tür, als sie sich aufsetzte und nach der Lampe neben dem Bett tastete. Der Lichtkegel fiel mir direkt vor die Füße, und ich trat unwillkürlich einen Schritt beiseite, als könnte sie mich dann nicht mehr sehen. Ich hatte Angst vor der Frage, was los war, und versuchte, sie zu beschwichtigen, noch bevor sie etwas sagen konnte, aber das Zischen, das ich zwischen den Lippen hervorpreßte, klang so scharf, daß ich selbst darüber erschrak.
    »Versuch zu schlafen«, hörte ich mich dann flüstern und kam mir wie ein Narr vor, weil ich mit ihr sprach wie mit einem Kind. »Du versäumst nichts.«
    Ich konnte es gerade noch vermeiden, ihren Namen auszusprechen, und obwohl ich nicht wußte, was ich damit angefangen hätte, wünschte ich mir, sie würde mich bitten, zu bleiben, aber sie dachte offenbar gar nicht daran, und ich ging. Das war in Winterhude, in der Nähe des Stadtparks, ein milder Morgen, der was für einen Tag auch immer versprach, als ich, ohne mir weiter über sie den Kopf zu zerbrechen, ins Freie trat, am Himmel noch ein richtiger Schlafwandlermond, und wenn nicht Sommer gewesen wäre und ich ein Schriftsteller mit einem Hang zum Phantastischen, hätte ich auf meinem Heimweg die Alster ohne Zweifel zufrieren

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