Das Handwerk des Toetens
Augenblick einen Arm um die Schultern, wie wenn nicht er es gewesen wäre, der mir etwas anvertraut hatte, sondern ich ihm.
»Ich habe die längste Zeit gar nicht richtig begriffen, daß der Krieg begonnen hatte«, fing er von neuem an. »Gerade weil alles so nah war, ist es mir ganz und gar unwahrscheinlich vorgekommen.«
Ich konnte nicht anders als lachen.
»Das sagt sich so leicht.«
»Ich weiß«, erwiderte er. »Es mag noch so naiv klingen, aber ich habe am Anfang geglaubt, ein Wort von wem auch immer würde genügen, und der Spuk wäre augenblicklich vorbei.«
Weiter droben auf der Elbe war ein Containerschiff aufgetaucht, auf das er jetzt seinen Blick heftete, und während mir einfiel, wie er einmal erzählt hatte, er habe sich immer auf den Hafen und auf das Wasser hinausgeredet, wenn er gefragt worden sei, warum er ausgerechnet nach Hamburg wolle, versuchte er von neuem, sein Gefühl der Unwirklichkeit zu erklären, und brachte dabei wieder Allmayer ins Spiel.
»Es muß auch etwas mit ihm zu tun gehabt haben«, sagte er. »Sooft er darüber gesprochen hat, ist mir das Ganze nämlich noch fremder erschienen, als wenn ich es in den Zeitungen gelesen habe.«
Dabei waren es nicht mehr nur die Barrikaden und die bewaffneten Posten in den Dörfern, waren in der Krajina und in Slawonien ganze Siedlungen niedergebrannt, gab es längst schon keinen Tag mehr ohne blutige Zusammenstöße, als er ein paar Wochen nach seinem ersten Besuch wieder nach Graz kam, und worüber auch immer er dann sprach, es war vergleichbar mit einem langsamen Einsinken in einem Sumpf, ein bodenloses Versacken in einem Fluß ohne Ufer. Über die folgenden Monate hätten seine Berichte zusammengenommen sicher einen Katalog abgegeben, wann gerade wieder einmal ein Waffenstillstand ausgehandelt war und nach wie vielen Stunden er gebrochen worden wäre, wo welche Brücke über die Save gesprengt oder welche Armeekaserne von Gardisten eingeschlossen und von Strom und Wasser abgeschnitten wurde, oder die Autobahn, bis zu welchem Tag sie noch wie weit befahrbar war, die Häfen entlang der Küste, wie lange die Blockade gedauert hatte. All das wäre nur etwas für Statistiker gewesen, hätte es nicht die Toten gegeben, von denen er zu erzählen wußte, sie würden auf beiden Seiten akribisch addiert, würden in Stellung gebracht und einander vorgerechnet und führten so ihr eigenes, gespenstisches Leben.
»Angeblich ist es dabei nicht nur einmal vorgekommen, daß sie einfach denen des Weltkriegs zugeschlagen worden sind, als wären seither nicht fünfzig Jahre vergangen.«
Daran erinnerte sich Paul noch genau, auch wenn er sofort bemerkte, daß ansonsten eher seine Frau auf die Details Wert gelegt habe, vor allem was die militärischen Belange betraf, wie er lachend anführte, um dann gleich ein Beispiel zu bringen, das sie von Allmayer hatte, zwei Panzerkolonnen, die irgendwann im Morgengrauen von Belgrad aus aufgebrochen waren und mit allen Begleitfahrzeugen mehrere Kilometer lang gewesen sein mußten.
»Eigentlich paßt das gar nicht zu ihr«, sagte er, ohne seine Ratlosigkeit zu verbergen. »Sie ist sonst nicht der Typ, der sich dafür interessiert.«
Durch die Art, wie sie darüber sprach, konnte er aber das Rattern der Ketten auf dem Asphalt hören, das Hurrageschrei der am Straßenrand aufgereihten Leute, konnte den Spätsommer riechen, den Mais in den Feldern mit den Tausenden von Vögeln, als sie sich dem Kampfgebiet näherten. Das Land bekam dann seine Farben zurück, habe nicht das Grau in Grau oder die Brauntöne gehabt, die man von Kriegsberichten kannte, es war jeweils eine bestimmte Tageszeit, er sah das Licht, er sah die Dunkelheit, ob sie sich darüber geäußert hatte oder nicht, die Weite bis zum Horizont, den Himmel, und das Tun und Treiben der in diese Landschaft hineingesetzten Figuren sei ihm nur um so vergeblicher erschienen. Es konnte nicht an dem liegen, was sie erzählte, es mußte ihre Stimme sein, der dunkle, zutrauliche Ton, auf den er mit einer vagen Sehnsucht reagierte, die ihm unheimlich wurde, sobald er sich bei dem Wunsch ertappte, dabei gewesen zu sein, als handle es sich nur um einen Ausflug, wenn auch mit vielleicht merkwürdigen Ritualen, und er bräuchte keine Angst zu haben, weil sie die Fäden in der Hand behalten und im Zweifelsfall darauf achten würde, daß kein Unglück geschah.
Dennoch sei er nicht unbedingt begeistert gewesen, wenn sie Allmayer bei seinen Besuchen an den Lippen hing, halbe
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