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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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die meiste Zeit nur stumm und taub durch die Gegend gelaufen.«
    Auch wenn es längst eindeutige Zeichen gegeben hatte, die ihm nicht entgehen konnten, angefangen mit den Flaggen an allen Ecken über die gerahmten Bilder in den Geschäftsauslagen, die durchwegs das gleiche Portrait zeigten, den ehemaligen Partisanengeneral in der noch schlecht sitzenden Pose des Diktators, einen erstaunlich harmlos wirkenden Onkel, bis hin zu den Uniformierten auf der Straße, sei dennoch sie es gewesen, die ihm vieles erst verständlich gemacht habe, wenn sie aus dem Kaffeehaus kam und erzählte, was sie wieder aufgeschnappt hatte, welche Ungeheuerlichkeiten über die Wilden, die Byzantiner, die Barbaren. Natürlich brauchte er ihre Erklärungen nicht, um in den plötzlich auftauchenden Schwarzhemden Wiedergänger aus einer finsteren Zeit zu erkennen, aber hätte er nicht ihre Geschichten gehabt, die keinen Zweifel am Ernst des Ganzen ließen, vielleicht wären sie ihm nur wie lächerliche Operettenfiguren vorgekommen. Ob es dabei um eine ihrer Freundinnen ging, die in der Bibliothek angespuckt worden sei, weil sie ein falsches Buch in die Hand genommen habe, einen Atlas in kyrillischer Schrift, oder um die Tochter einer anderen, die mit ihrem serbischen Mann zu ihren Schwiegereltern nach Belgrad fliehen wollte und, von ihnen abgewiesen, sich jetzt in der eigenen Familie Tschetnikhure schimpfen lassen mußte, er hätte ohne ihre Hilfe mühselig nach Beispielen gesucht, um nicht nur vage über die Atmosphäre zu schreiben, die er in der Stadt wahrnahm, diese Mischung aus aggressiver Euphorie und ängstlicher Niedergeschlagenheit. Allein ihre Übersetzungsdienste waren unschätzbar für ihn, er hätte nie geahnt, wie blutrünstig das Gegröle der abends herumziehenden Betrunkenen sein konnte, wenn sie ihn nicht darauf hingewiesen hätte, und es war ihm lange unangenehm, zugeben zu müssen, daß er selbst gedankenlos eine Melodie aus dem Radio nachgepfiffen habe, bis sie ihn fragte, ob er eigentlich den Titel des Liedes kenne, und ihn, ohne auf seine Antwort zu warten, gleich sagte, Eine Kroatin hat dich geboren , und dann nicht und nicht aufhören wollte, über sein Entsetzen zu lachen.
    Dabei klang sie selbst nicht unbedingt vertrauenserweckend, wenn sie ihm mit der größten Gelassenheit erzählte, es störe sie nicht, daß die neuen Herren die Straßennamen änderten, weil es von Zeit zu Zeit einfach so sei und man nur lange genug leben müsse, damit alles wieder hieße wie früher. Sie nahm es hin, daß auf einmal da und dort Erinnerungen an die schlimmsten Schergen aus dem Weltkrieg wieder wachgerufen wurden, aber er war trotzdem eines Tages mit ihr auf den Hügel gegenüber dem Dom gestiegen, um dort die nach wie vor existierenden, viel älteren österreichischen Aufschriften an manchen Gebäuden anzuschauen, die auf den abblätternden Putz gemalten Schilder mit den immer noch lesbaren Schriftzügen wie Herrengasse, Nonnengasse oder Rathausgasse . Es war eine pathetische Geste, durch und durch sentimental, ausgerechnet in einer Stadt, die akut bedroht war, einen Fluchtweg in die Vergangenheit zu suchen, und als er neben ihr von einem Aussichtspunkt über die ziegelroten Dächer blickte, muß er ganz schön blind gewesen sein, daß ihn nicht gerade das scheinbare Wiedererkennen, die scheinbare Erinnerung an irgendwelche Hirngespinste aus dem üblichen, nostalgisch verbrämten k. u. k. Fundus augenblicklich ernüchtert hat. Denn ihre Gleichgültigkeit war bequem, ihr Fatalismus, daß schon seit jeher alle nur Elend über das Land gebracht hatten, mochten es Fremde oder die eigenen Leute sein, und ob er wollte oder nicht, sie versuchte, ihn zu ihrem Komplizen zu machen, wenn sie betonte, ihr könne niemand mehr etwas einreden, sie habe vor einem halben Jahrhundert die Deutschen samt ihren einheimischen Knechten genauso polternd kommen und dann mit eingezogenem Schwanz wieder verschwinden sehen wie später die Partisanen, ihren Auftritt als Freiheitskämpfer, ihren Abgang als Parteibonzen, und das einzig Bemerkenswerte daran war, daß jedesmal Leichen den Weg buchstäblich gepflastert hatten.
    Ich erinnere mich genau, daß Paul sich an der Stelle unterbrochen hat, um ein weiteres Mal seine Verwunderung zum Ausdruck zu bringen, wie seine Frau das alles nach so vielen Jahren noch über Allmayer präsent gehabt haben kann.
    »Ohne Zweifel hat sie sich mehr für ihn interessiert, als ich mir eingestehen mag«, sagte er und schien sich

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