Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
der Bewusstlosigkeit erwacht war. Deinen Neffen und dich selbst getötet. Wir wären besser alle mit Bolilut gegangen …
Das war ja so typisch. Was Bolilut tat, war immer richtig, selbst wenn er sich sternhagelvoll von irgendeinem sächsischen Wilden hatte abschlachten lassen. Und wo Bolilut war, schien immer die Sonne, auch wenn es sich um die Welt jenseits des Großen Flusses handelte, den zu überqueren sich doch eigentlich niemand drängte. Aber in den vergangenen Wochen hatte Tugomir so manches Mal die Frage gequält, ob sein Vater nicht vielleicht recht gehabt hatte.
Sobald sicher war, dass Fürst Vaclavic am Leben bleiben würde, hatte König Heinrich zum Aufbruch gerüstet, denn er war noch lange nicht fertig mit den slawischen Völkern. Da er aber keine Soldaten erübrigen konnte, um sie als Besatzer in der Brandenburg zurückzulassen, hatte er beschlossen, Tugomir als Geisel zu nehmen, um das Wohlverhalten des hevellischen Fürsten zu erpressen. Sollte der sich je gegen sächsische Oberherrschaft erheben, Tributzahlungen verweigern, Krieger um sich scharen oder Ähnliches, werde man ihm den Kadaver seines letzten verbliebenen Sohnes schicken, und zwar in vielen kleinen Stücken, hatte Heinrich ausrichten lassen – durch den in Rede stehenden Sohn, natürlich, der als Einziger in der Lage war, zwischen Siegern und Besiegten zu übersetzen, nachdem Liub, dieser erbärmliche Feigling, nicht von eigener Hand, sondern von sehr vielen Händen äußerst erboster Heveller gerichtet worden war.
Und auch Dragomira werde als Geisel genommen, hatte der König noch hinzugefügt, als sei es ihm im letzten Moment eingefallen. Fürst Vaclavic hatte auf den Boden gespuckt, als der Name seiner Tochter fiel, denn natürlich wusste er genau wie Tugomir, warum und für wen Dragomira verschleppt wurde.
Die Aussicht auf ein Dasein als Gefangener hatte Tugomir mit Furcht und bösen Vorahnungen erfüllt. Er wusste zu genau, was die Menschen mit jenen taten, die ihnen wehrlos ausgeliefert waren. Er hatte es schließlich oft genug erlebt, wenn die Heveller von ihren Kriegszügen gegen feindliche Nachbarn – meist die verfluchten Obodriten – Gefangene mit heimbrachten. Aber fast noch schlimmer als die Angst vor seiner wenig rosigen Zukunft war der Schmerz darüber, seine Heimat verlassen zu müssen. Er versuchte sich klarzumachen, dass er die stolze Brandenburg nie wiedersehen würde, das Funkeln der Sonne auf dem Wasser der Havel an einem klaren Frühlingsmorgen, die Seen und Wiesen des weiten Havellandes und die schier endlosen Wälder, deren Wildreichtum sein ganzes Volk vor Hunger bewahrte und deren Magie das Tor gewesen war, durch welches Tugomir Eingang in die Götterwelt gefunden hatte. Er scheiterte. Er sah sich außerstande, sich ein Dasein außerhalb dieser vertrauten Welt vorzustellen. Aber er machte sich nichts vor. Er wusste, es war ein Abschied für immer. Früher oder später würde sein Vater den erzwungenen Frieden mit dem Sachsenkönig brechen; kein Fürst konnte es sich auf Dauer erlauben, sich unterjochen zu lassen. Die Sorge um das Wohlergehen seines Sohnes würde ihn nicht abhalten. Fürst Vaclavic hatte die bittere Erfahrung machen müssen, dass persönliche Empfindungen ein Luxus waren, der einen Herrscher teuer zu stehen kommen konnte. Und außerdem gab es ja den kleinen Dragomir, der ihr Geschlecht fortführen konnte.
Sie waren in südlicher Richtung aufgebrochen und hatten sich durch verschneite Wälder geschlagen, bis sie die Elbe erreichten, deren Ufer sie bis zur Mündung der Jahna gefolgt waren. Dann waren sie den kleineren Fluss hinaufgezogen, hatten die ersten Dörfer der Daleminzer erreicht und niedergebrannt und mit der Belagerung ihrer Burg – die ebenfalls Jahna hieß – begonnen.
Zehn Tage hatten sie für den Marsch gebraucht, und Tugomir war erleichtert gewesen, dass man ihn wenigstens in einer Hinsicht wie den Sohn eines Fürsten behandelt und ihm ein Pferd zugestanden hatte. Auch so hatte der lange Weg durch Schnee und Kälte ihm viel abverlangt, denn er bekam nie genug zu essen, schon gar nichts Heißes.
Als die Sachsen ihr Lager vor den Toren von Jahna aufgeschlagen hatten, konnten sie niemanden mehr erübrigen, um ihre kostbare Geisel zu bewachen. Also hatten sie Tugomir Fußketten angelegt, die das Gehen beschwerlicher machten, als er sich je hätte vorstellen können. Das war indes nicht so schlimm, weil er kaum je irgendwohin ging. Er schlief mit einem runden Dutzend
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