Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
streng riechender sächsischer Krieger in einem Mannschaftszelt an einen Zeltbalken gekettet. Wenn sie es nicht vergaßen oder er nicht allzu aufsässig gewesen war, führte irgendwer ihn morgens zur Latrine, und meistens brachten sie ihn anschließend in sein Zelt zurück, überließen ihn Hunger, Kälte und seinen düsteren Gedanken und zogen gegen die bedauernswerten Daleminzer. Nur hin und wieder brachten sie ihn stattdessen zum Zelt seiner Schwester, das groß, sauber, komfortabel eingerichtet und obendrein beheizt war. Tugomir wusste genau, dass er auf Prinz Ottos Anordnung hierhergebracht wurde, der Dragomira eine Freude machen wollte. Und die Erkenntnis, dass er nicht einmal die Macht besaß, die unwillkommenen Freundlichkeiten dieses verfluchten Sachsenprinzen abzulehnen, der sich Nacht für Nacht zu seiner Schwester legte, stürzte Tugomir in Düsternis.
»Wie lange dauert diese Belagerung jetzt schon?«, fragte Dragomira in seinem Rücken.
»Zwanzig Tage.«
»Die armen Menschen. Ich hoffe, sie haben mehr Vorräte in der Burg angelegt als wir. Denkst du, die Milzener oder die Sorben werden ihnen zur Hilfe kommen?«
Das hatte Tugomir inständig gehofft, denn sie waren die östlichen und westlichen Nachbarn der Daleminzer, und die Anwesenheit einer feindlichen Armee vor ihrer Haustür war ihnen gewiss nicht entgangen. Doch er schüttelte den Kopf. »Ich schätze, dann wären sie längst hier. ›Die kleinlichen Streitereien zwischen den Stämmen unseres Volkes werden einmal unser Untergang sein‹, hat Schedrag immer gesagt. Wie es aussieht, hatte er recht.«
»Du sagst das so, als wäre es dir gleich«, stellte seine Schwester verblüfft fest.
Es war ihm nicht gleich, im Gegenteil. Aber Gleichmut vorzutäuschen schien der einzige Weg, um zu verhindern, sich gehen zu lassen. »Ich bin keineswegs sicher, ob die Milzener und die Sorben uns heimschicken oder nicht vielleicht doch lieber umbringen würden, weil sie irgendeine alte Rechnung mit Vater offen haben«, behauptete er. »Darum weiß ich nicht, ob ihr Beistand für uns so ein Segen wäre …«
Tugomir hörte Dragomiras schönes Lachen und ein leises Plätschern. Für einen Moment überwog seine Neugier die Scham, und er riskierte einen winzigen Blick über die Schulter. Sie kniete vor der Wasserschüssel auf dem mit Fellen ausgelegten Boden und wusch sich das Haar. Hastig schaute er wieder auf die graue Zeltwand. Sie macht sich hübsch für ihn , dachte er. »Im Übrigen habe ich nicht den Eindruck, dass du besonders darunter leidest, wie die Dinge sind.«
Das Plätschern verstummte abrupt, und für ein paar Herzschläge war es vollkommen still in seinem Rücken. Dann antwortete Dragomira: »Ich habe mich seit Wochen gefragt, wann du mir diesen Vorwurf machen würdest. Ich hab mich schon gewundert, dass er nicht kam.«
Ihr Spott machte ihn wütend. »Was erwartest du? Soll ich glücklich darüber sein, dass es dir so gar nichts ausmacht, dich von ihm bespringen zu lassen?«
»Wäre es dir lieber, ich wäre verzweifelt?«, konterte sie. »Glaubst du, es würde irgendeinen Unterschied machen?«
Für mich schon , dachte er. Doch er musste sich selbst eingestehen: Er wollte nicht, dass seine Schwester verzweifelt war. Im Gegenteil, er hatte sie gern. Wie mit so vielen Dingen stand er auch damit ganz allein in seiner Familie. Sein Vater, Bolilut, die Vettern und Onkel hatten Dragomira nie die geringste Beachtung geschenkt, weil Mädchen nun einmal nicht zählten. Das war völlig normal. Aber auch Boliluts Frau und die Tanten und Basen waren auf Distanz zu ihr gegangen. Schlechtes Blut , raunten sie hinter vorgehaltener Hand. Schlechtes Blut vererbt die Mutter an die Tochter …
Dragomira nutzte sein Schweigen für einen Vermittlungsversuch. »Otto ist ein guter Mann, Tugomir.«
»Er ist ein Sachse und unser Feind. Er und die Seinen wollen uns auf jede erdenkliche Weise erniedrigen. So wie er dich eben erniedrigt.«
»Aber er ist immer großzügig und freundlich. Niemals grob. Er bringt mir kleine Geschenke und tut wenigstens so, als hätte er mich gern, damit ich mich besser fühle. Dabei bräuchte er das doch gar nicht. Aber er hat … ein gütiges Herz.«
»Ich glaub, mir wird übel. Ein gütiges Herz ? Sollte es möglich sein, dass du so leicht zu täuschen bist? Mit kleinen Geschenken und einem Lächeln?«
»Es ist mehr, als ich zu Hause je von irgendwem bekommen habe«, gab sie zurück. »Du darfst dich übrigens wieder umdrehen.«
Er
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