Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
nächsten Ankömmling zu warten. »Aber?«
»Na ja, es reicht halt nicht für alle.«
Tugomir stieß verächtlich die Luft durch die Nase aus. »Ihr seid doch wahrhaftig Wilde …«
»Was fällt dir ein?«, brauste Udo auf. » Ihr seid die Wilden!«
»Ah ja?«
»Willst du etwa behaupten, bei euch gibt es keine Bettler?«
»Das will ich behaupten, ganz recht. Bei uns kümmert sich jede Familie um die Ihren. Und wer keine Sippe mehr hat und sich nicht selbst ernähren kann, bekommt Nahrung und Kleidung im Tempel. Alle Gesunden geben etwas von ihrer Ernte oder Jagdbeute dafür ab. Und zwar so lange, bis es für alle Bedürftigen reicht. Was könnte näher liegen? Schon morgen können die Götter beschließen, dir dein Augenlicht oder die Kraft deiner Hände zu nehmen. Wenn du für deine Gemeinschaft sorgst, sorgst du für dich selbst, oder?«
»Ich versteh nicht, was du da faselst«, brummte Udo.
»Nein.« Tugomir seufzte und setzte sich wieder in Bewegung. »Ihr Strohköpfe seid vermutlich einfach zu beschränkt.«
In der großen Halle herrschte Hochbetrieb. Wegen des anhaltenden Spätsommerwetters waren die Fenster noch nicht mit Läden verschlossen worden, sodass helles Sonnenlicht hereinströmte, in welchem Staubteilchen tanzten wie winzige Goldflocken. Schwere Eichenplatten auf Holzböcken waren zu drei langen Tischen zusammengefügt worden. Der an der Stirnwand stand auf einem leicht erhöhten Podest, und dort saß König Heinrich in kostbareren Gewändern, als man sonst an ihm sah, darüber einen blauen Umhang, in welchem Goldfäden schimmerten. Mathildis an seiner Seite erstrahlte ihrerseits in smaragdgrünem Brokat, und ein schmaler, mit Edelsteinen besetzter Goldreif hielt ihren Schleier. Beide trugen perlenbesetzte Schuhe mit goldenen Bändern, wie Tugomir zu seinem Erstaunen feststellte. Bis heute hatte er nicht gewusst, dass es dergleichen gab. Während er hinüberschaute, kniete ein Mann vor Heinrich nieder und sagte feierlich: »Ich bin Eurem Ruf gefolgt und nach Quedlinburg geeilt, um Euch meiner unverbrüchlichen Treue zu versichern, mein König.«
»Habt Dank, Arnulf.« Heinrich gestattete ihm mit einer Geste, sich zu erheben. »Eure Treue wissen wir ganz besonders zu schätzen.«
Tugomir argwöhnte, er höre einen Hauch von Spott in den Worten des Königs.
Udo trat ihm unauffällig gegen den Fußknöchel. »Beweg dich.«
Der Hevellerprinz ging weiter und fragte gedämpft: »Wer ist dieser Arnulf?«
»Der Herzog von Bayern, Gott verfluche seine verkommene Seele.«
Tugomir verstand schlagartig König Heinrichs höhnischen Tonfall: Arnulf von Bayern hatte sich nur ein gutes Jahr nach Heinrichs Königswahl zum Gegenkönig erheben lassen, und auch wenn Heinrich ihn schließlich unterworfen hatte, hieß das vermutlich noch lange nicht, dass Arnulf von Bayern seine Träume begraben hatte.
Während der Herzog auf Mathildis’ Einladung an der hohen Tafel Platz nahm, führte Udo Tugomir zur oberen rechten Seitentafel, wo die drei Prinzen mit den beiden angelsächsischen Prinzessinnen saßen. Thankmar sah ihn kommen und knuffte Henning in die Rippen. »Mach Platz für Prinz Tugomir.«
»Wieso?«, fragte der kleine Kerl entrüstet. »Er ist nur ein Barbarenprinz, ich bin der Sohn des Königs, obendrein im … wie heißt das noch mal?« Er überlegte einen Moment. »Im Purpur geboren! Er soll also gefälligst unterhalb von mir sitzen.«
»Vielleicht gehst du an die hohe Tafel und besprichst das mit Vater?«, schlug der ältere Bruder vor. »Der Kämmerer hat die Sitzordnung nach Anweisungen des Königs festgelegt.«
Henning kapitulierte, bedachte Tugomir mit einem mürrischen Blick und rückte stumm beiseite. Tugomir nickte ihm wortlos zu und glitt neben ihn auf die Bank.
Thankmar schob ihm einen Becher zu. »Hier, trink. Diese Empfangszeremonie kann noch Stunden dauern. Kennst du Prinzessin Egvina von Wessex?«
Die Prinzessin saß an Thankmars anderer Seite, lehnte sich ein wenig zurück, um an seinem Rücken vorbeischauen zu können, und lächelte Tugomir zu. »Endlich. Ich war schon so neugierig auf Euch, Prinz Tugomir.«
»Wirklich?«, fragte er unbehaglich.
»Man hört die interessantesten Dinge über Euch. Und so Widersprüchliches. Wunderheiler und Teufelsdiener, zum Beispiel. Was stimmt denn nun?«
Ihr herausfordernder Blick gefiel ihm, genau wie der völlige Mangel an damenhafter Zurückhaltung. »Ich bin mir nie ganz sicher, was ihr Sachsen meint, wenn ihr vom Teufel oder
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