Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
Familie zu gehören, während bei mir immer meine Mum und mein Dad um mich herum waren, und ich immer wusste, dass sie sich und auch mich lieben. Ich bin also mit einem großen Gefühl von Sicherheit aufgewachsen.
Ellas eigentlicher Vater ist tot. Er ist bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, ich war damals noch ein Baby und habe ihn deshalb nie kennengelernt. Mum sagt, anfangs sei er sehr nett gewesen, aber in den letzten Jahren ihrer Ehe nur noch streitsüchtig. Charlies Mum, Dads erste Frau, hatte psychische Probleme und ist nach der Scheidung wieder nach Deutschland gegangen. Sie hatten kaum Kontakt, und sie ist ebenfalls früh gestorben, da war Charlie gerade sechzehn. Sie habe ich auch nie kennengelernt. Charlie und Dad sind zu ihrer Beerdigung geflogen, was sicher sehr hart war, obwohl Charlie seine Mutter nicht wirklich gekannt hat und in gewisser Weise auch von ihr im Stich gelassen worden ist. Ich muss versuchen, für Charlie und Ella mehr Verständnis aufzubringen, weil sie nur ein Elternteil haben, auch wenn ich manchmal denke, dass sie mehr Verständnis für mich haben sollten, weil ich die Jüngste bin.
Es war wie in meiner neuen Schule, nachdem wir von Richmond in ein größeres Haus in Malvern gezogen sind. Ich musste mitten im Schuljahr anfangen, und da hatten alle anderen schon Freunde, und ich habe eine Ewigkeit gebraucht, beinahe eine Woche, bis ich endlich ein paar wirklich gute Freunde hatte. Wenn man es so sieht, war es in meiner Familie nicht anders. Als ich geboren wurde, waren Ella und Charlie schon seit mehr als einem Jahr Geschwister und hatten schon alle möglichen Insiderwitze, und ich musste ständig versuchen, irgendwie dazwischenzukommen, was echt schwierig war, weil ich doch gerade auf der Welt war und nicht sprechen konnte!
Mehr kann ich erst mal nicht schreiben. Ich muss ständig darüber nachdenken, was ich jetzt in London machen soll. Am einfachsten wäre es, ich würde mich bei Mum und Dad entschuldigen und Dad bitten, mir eine neue Kreditkarte zu schicken und mein Zimmer um eine Woche zu verlängern. Aber ich bin zu wütend. Ehrlich. Ich bin total wütend und verletzt.
Ich werde Ben um Hilfe bitten. Vielleicht kann ich ja ein paar Tage bei ihm auf dem Boden schlafen, bis ich irgendeinen Job gefunden habe. Ich war vielleicht ein bisschen zu optimistisch, was die Musicals angeht. So schnell klappt das mit der Rolle offenbar wohl nicht.
Schlafen kann ich erst mal nicht. Ich muss echt aufpassen, dass ich nicht zu viel grübele, denn dann bricht alles, was mir meine Therapeutin beigebracht hat, weg, und dann muss ich diesen entsetzlichen Tag immer wieder durchleben. Und dann spüre ich nur noch Felix, wie ich ihn hochgehoben, wie ich ihn an der Hand gehalten habe, und dann der entsetzliche Moment, als ich gesehen habe, wie er das Gleichgewicht verliert. In dem Moment habe ich gewusst, dass etwas ganz Furchtbares passieren wird und ich es nicht aufhalten kann, und ich habe geschrien und geschrien, und dann kam das Geräusch. Ich habe gehört, wie er mit dem Kopf aufgeschlagen ist. Ich habe das Ella oder Aidan nie erzählt – wie auch? –, aber ich habe es gehört, und ich höre es immer noch so oft. Und wenn ich mein Leben dafür geben könnte, wenn ich tauschen könnte, ich würde es tun. Ich würde alles tun, damit das ungeschehen wird. Er war so ein wundervolles Baby. Dabei war er gar kein Baby mehr, er war doch schon ein kleiner Junge. Er hat mich immer Ess genannt. Er konnte noch kein J aussprechen, obwohl er für sein Alter wirklich weit war. Ich habe darüber immer so gelacht. Wenn er mich gesehen hat, hat er immer die Arme hochgestreckt und »Ess! Ess!« gerufen. Darum habe ich ihn Elix genannt. Sein Lieblingsspiel war Kuckuck. Das konnte er stundenlang spielen, und er hatte dabei immer so ein komisches gurgelndes Lachen, man konnte gar nicht anders, als auch zu lachen.
Ich begreife es noch immer nicht. Wie kann Gott so etwas zulassen? Ich bin sowieso nicht sicher, ob ich an Gott glaube. Ein guter Gott würde einen kleinen Jungen doch nicht sterben lassen.
Hätte ich bloß nicht daran gedacht. Nicht, wenn ich allein bin. Wenn ich es erst einmal im Kopf habe, ist es schwer, es wieder loszuwerden, dann stürzen all die schlimmen Gedanken auf mich ein. Wenn mir das zu Hause passiert, hilft mir Mum immer. Dann hält sie mich ganz fest, bis es mir wieder besser geht, und sagt mir immer wieder: »Es war ein schrecklicher Unfall, Jessie, ein Unfall.« Das weiß ich
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