Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
winkte unermüdlich in die Kamera. Dann begann das Interview.
Zuerst dachte ich, die Verbindung wäre schlecht. Ich hielt den Clip an, begann von Neuem. Ich klickte auf Vollbild, dann wieder auf Standard. Es lag nicht am Video. Und auch nicht an mir. Mum wirkte irgendwie fremd. Nicht in ihrem Auftreten. Sie war gewohnt komisch. Und sie sang gewohnt gut, wechselte mitten im Interview in den Refrain von Food, Glorious Food, stand auf und ging zu einer Mini-Küche, wo sie ihre Künste demonstrierte. Auch dort war sie gewohnt chaotisch. Dann sah ich es. Es war ihr Gesicht. Mum hatte sich Botox spritzen lassen. Sehr viel Botox.
Ich war entsetzt. Wieso machte sie so etwas? Jeder wusste, dass sie Mitte fünfzig war. Sie hatte um ihr Alter nie ein Geheimnis gemacht, und genau das trug zu ihrem Erfolg mit bei. Ich war traurig und enttäuscht. Ich schrieb ihr sofort eine E-Mail und zensierte meine Worte dabei nicht.
Mum, bitte sag mir, dass ich mir das einbilde. Botox? Ich habe mir eben diese Talkshow angesehen, und du warst großartig, aber deine Stirn hat sich nicht ein einziges Mal bewegt. Du warst doch toll, so wie du warst. Alle lieben dich, weil du so ungekünstelt bist. Du selbst bist. Du kommst mir nicht wie meine Mum vor, wenn du nicht aussiehst, als wärst du meine Mum. Ich wünschte wirklich, das hättest du gelassen.
Ich konnte diese E-Mail selbstverständlich nicht versenden. Ich war vierunddreißig und nicht vierzehn. Wenn sich Mum einer Schönheitsoperation unterziehen wollte, war das ihre Entscheidung, ob es mir passte oder nicht. Ich klickte auf »Löschen«. Ich sah noch einmal hin. Ich hatte auf »Senden« gedrückt. Ich versuchte, den Vorgang abzubrechen, doch es war zu spät. Die E-Mail war schon unterwegs.
Ich schickte eilig eine zweite E-Mail hinterher. Mum, es tut mir leid. Ich wollte das nicht losschicken.
Eine Minute später checkte ich meine E-Mails. Noch keine Antwort. Ich checkte sie erneut. Noch immer keine Antwort.
Da rief ich sie an. Ich hatte Mum seit über einem Jahr nicht angerufen. Sie ging sofort ran.
»Ella! Darling, wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«
»Mum, alles gut. Ich wollte dich nicht erschrecken, entschuldige. Ich rufe wegen meiner E-Mail an. Ich hätte sie nicht schicken dürfen …«
»Die Dankesmail? Die habe ich gerade bekommen. Ich danke dir , Darling. Ich bin so froh, dass es in deinem Sinne ist, dass ich für Felix eine Messe lesen lasse. Ich war nicht sicher, ob es mir zusteht …«
»Dir zusteht?«
»Ob ausgerechnet ich die Messe lesen lassen sollte …«
»Aber Felix war dein Enkelkind. Natürlich kannst du eine Messe für ihn lesen lassen.«
»Ganz bestimmt? Ich habe mich gefragt, ob ich das nicht besser vorab mit dir geklärt hätte.« Bevor ich etwas erwidern konnte, redete sie schon weiter. »Oh, da kommt ja noch eine E-Mail. Du warst aber fleißig. Ist das nicht erstaunlich? Da spreche ich mit dir am Telefon, und zur gleichen Zeit bekomme ich deine E-Mails hier auf meinen Laptop.« Eine Weile herrschte Schweigen, dann lachte Mum. »Ist das die Mail, die du nicht schicken wolltest? Dein Kommentar zu meinem Botox?«
»Mum, es tut mir leid. Es geht mich wirklich nichts an. Ich …«
Sie lachte wieder. »Ach, keine Sorge, Ella. Alle haben schon mit mir geschimpft. Walter war entsetzt. Ich werde es einfach ausdünsten oder warten, bis es sich auflöst oder was es auch macht. Und ich werde es nie wieder tun, versprochen. Es ist grässlich. Ich sehe immer gleich aus, egal, wie ich mich fühle. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Aber genug von mir und meiner albernen Botox-Eskapade. Wie geht es dir, Darling? Wie ist es in London?«
»Immer noch sehr kalt. Letzte Woche hat es sogar geschneit. Nur ein paar Flocken, aber …«
»Ich weiß! Jess war völlig aus dem Häuschen. Sie hat mich angerufen, um …« Mum unterbrach sich abrupt.
»Mum?«
»Ich muss Schluss machen, Darling. Ich komme sonst zu spät ins Studio. Ich danke dir für deinen Anruf. Es ist so schön, deine Stimme zu hören.«
»Mum, warte, bitte. Hast du eben gesagt, Jess …«
Doch sie hatte bereits aufgelegt. Als ich wieder anrief, ging sie nicht ans Telefon. Ich hinterließ ihr keine Nachricht. Ich rief sie nicht noch einmal an. Stattdessen tat ich etwas, was ich seit Langem nicht getan hatte. Ich ging auf Facebook.
Ich hatte mir verboten, auf Facebook nachzusehen. Und obwohl mir eine innere Stimme davon abriet, gab ich nun Jess’ Namen ein. Ich wusste, dass ihre Inhalte
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