Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
hundersten Mal habe ich aufgehört. Ich habe mitgezählt. Am nächsten Morgen war ich ganz erschrocken, weil auf meinem Bett lauter Blutspritzer waren, und auch meine Haut war blutig und voll blauer Flecken, doch dann habe ich einfach meine Laken schnell gewaschen, und von da an immer, wenn es nötig war.
Die Garderobiere im Fernsehstudio hat Mum irgendwann davon erzählt. Ich hatte ein Fitting und war in Unterwäsche. Da hatte ich es schon seit Wochen nicht getan, ich war also nicht so wund wie sonst. Ich hatte es eigentlich schon fast vergessen. Aber der Garderobiere ist wohl etwas aufgefallen, denn am Abend ist Mum zu mir gekommen und hat gesagt: »Jess, du musst mir deinen Bauch zeigen.« Ich wollte erst nicht, doch dann habe ich angefangen zu weinen und es ihr gezeigt, und dann hat sie auch geweint und gesagt: »Warum, Jess? Warum tust du das?« Und da habe ich ihr die Wahrheit gesagt – weil es mir dadurch ein bisschen besser geht, wenn auch nur sehr kurz.
Daraufhin sind sie wieder mit mir zum Arzt gegangen und haben mich drei Mal in der Woche zur Therapie geschickt. Da war ich dann ein Jahr. Von den Sitzungen habe ich Ben und Zach kaum etwas erzählt, obwohl sie jede Menge Fragen hatten. Musste ich mich auf die Couch legen? Hat die Therapeutin eine Lampe auf mich gerichtet? So was in der Art. Ich habe ein bisschen erzählt, nicht viel, weil es schwer und schrecklich war und ich nicht gern daran zurückdenke. Sie war nicht immer rücksichtsvoll, aber ich glaube, geholfen hat sie mir. Sie hat mir beigebracht, wie ich andere Bilder in den Kopf bekomme, wenn die schlimmen Bilder kommen, und ich musste mir und meinem Körper versprechen, dass ich mich nicht mehr verletzen werde. Sie hat immer wieder gesagt: »Ihr Körper ist etwas sehr Wertvolles, Jess. Sie müssen ihn mit Liebe und Achtsamkeit behandeln. Davon, dass Sie sich wehtun, kommt Felix nicht zurück. Das müssen Sie akzeptieren.«
Dann wollte Ben die Narben sehen. Zach hat ihn ausgeschimpft. Er war auf einmal wirklich nett zu mir, aber komischerweise hat mir Bens Frage überhaupt nichts ausgemacht. Ich hatte das außer Mum noch niemandem gezeigt, aber ich hatte ziemlich viel getrunken und außerdem das Gefühl, dass es mir geholfen hatte, darüber zu reden, und die beiden hatten echtes Interesse. Also habe ich mein T-Shirt ein wenig hochgeschoben, über die Taille. Ein paar Narben sind noch da, aber die meisten sind verblasst. Es ist zwei Monate her, dass ich das zum letzten Mal gemacht habe. Ich war ein paar Mal drauf und dran, ich hatte mir sogar schon eine Nadel geholt, aber ich habe gelernt, mich daran zu hindern, indem ich mir vorstelle, dass Felix darüber furchtbar traurig wäre. Das war die Idee meiner Therapeutin. Und sie hat recht. Er hätte es entsetzlich gefunden, dass ich so was tue.
Nachdem ich ihnen die Narben gezeigt hatte, ist Ben zu mir gekommen und hat mir einen Kuss auf den Kopf gegeben, und das war so süß, dass ich weinen musste. Und dann hat Zach gesagt: »Es tut mir wirklich leid, Jess. Haben dich deine Mum und dein Dad deshalb nach London geschickt?« Ja, habe ich gesagt. Und dann habe ich ihnen alles andere auch erzählt, dass es im Moment besonders hart ist, weil der Tag näher rückt, an dem es zwanzig Monate her ist.
Ich kann es noch immer nicht fassen, dass es erst zwanzig Monate her ist. Manchmal kommt es mir vor, als wäre es zehn Jahre her. Manchmal, als wäre es erst letzte Woche geschehen. Seit es passiert ist, habe ich ein ganz merkwürdiges Zeitgefühl. Aber für uns alle, Mum und Dad und sicher auch für Aidan und Charlie, von Ella weiß ich es nicht, aber für sie bestimmt auch, ist dieser Tag eine große Sache, ein wichtiges Datum. Ich weiß nicht mal mehr genau, wieso. Ich glaube, irgendjemand hatte etwas in der Art auf eine Beileidskarte geschrieben oder auf der Beerdigung gesagt. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind ein bisschen wirr. Aber Mum und ich haben uns immer wieder gesagt, wenn wir es irgendwie zu dem Tag schaffen, an dem er genauso lang tot ist, wie er gelebt hat, wird es besser. Aber das wird es nicht, das weiß ich jetzt. Es sind nur noch wenige Tage, doch Ella wird nie mehr mit mir reden, Aidan hat Australien verlassen, und ich weiß nicht, ob Mum und Dad Kontakt zu ihm haben. Falls ja, erzählen sie es nicht. Ich habe ihn seit Monaten nicht gesprochen. Ich hatte schon so lang vor, ihm zu mailen, aber ich habe meine Nachricht nie zu Ende geschrieben. Was sollte ich schon sagen? Es ist, als
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