Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
und er hat sehr entschieden Nein gesagt. »Wie stellst du dir das vor, Jess, sollen die etwa kommen und meine Wohnung durchsuchen?« Da habe ich kapiert, dass er an die ganzen Sachen aus dem Hotel gedacht hat, ganz zu schweigen von dem Bong. Und dann hat er noch gesagt, dass er diese Typen nicht mal kannte, dass er die in irgendeinem Club kennengelernt hatte, aber dass sicher einer von denen meine Sachen genommen hat. Ich habe nur immer wieder gefragt: »Aber was soll ich denn jetzt tun?« Und er: »Bleib einfach da. Wir regeln das, wenn ich nach Hause komme.« Dann habe ich eine Stimme im Hintergrund gehört, und er hat gesagt: »Tut mir leid, Jess, ich muss Schluss machen. Ich komme, sobald ich Feierabend habe.«
Und das war vor einer Stunde. Ich kann die Polizei nicht rufen. Was können die schon ausrichten? Als Erstes würden die wahrscheinlich sagen, ich soll meine Eltern anrufen, aber das kommt nicht infrage. Auf keinen Fall. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann sonst niemanden anrufen, weil ich sonst niemanden habe. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Am liebsten würde ich es wieder tun. Mir wieder wehtun. Doch das darf ich nicht. Das werde ich auch nicht. Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.
Kapitel 41
Ich musste eine halbe Stunde vor dem Gate warten, bis Charlies Maschine endlich landete. Ich entdeckte ihn, bevor er mich sah. Am liebsten wäre ich hinter die Absperrung gerannt, ihm gleich in die Arme. Dann sah auch er mich, beschleunigte seinen Gang, dann war seine Tasche auf dem Boden, und wir fielen uns in die Arme. Ich hatte ganz vergessen, wie fantastisch es in seiner Umarmung war. Keine Umarmung war so schön wie die von Charlie.
»Nicht weinen«, sagte er.
»Tu ich nicht.«
»Ich auch nicht.«
Ich trat zurück. Wir hatten uns zuletzt vor beinahe zwei Jahren gesehen. Er war unverändert. Er hatte kein Gramm abgenommen. Noch immer das breite Lächeln, das dichte schwarze Haar. Ich umarmte ihn erneut.
»Das war viel zu lang, Ella. Du hast mir gefehlt.«
»Du mir auch. Wie geht es Lucy?« Jetzt frag schon. »Wie geht’s den Kindern?«
»Ihnen fehlst du auch.«
Die Ankunftshalle in Heathrow war nicht der Ort, um all das zu sagen, was wir zu sagen hatten. Wir wechselten in einen pragmatischen Modus. Nein, er hatte keinen Koffer, nur Handgepäck. Wir konnten sofort in die Stadt fahren.
Wollte er einen Tee, eine Kleinigkeit essen? Er musste doch vor Hunger umkommen.
»Ich steige eben aus dem Flugzeug, sehe dich nach Jahren wieder, und schon kommentierst du mein Gewicht? Ella, ich bin ein menschliches Kamel. Ich kann monatelang von meinem Körperfett zehren.« In seine Aussprache hatte sich eine leichte amerikanische Färbung eingeschlichen.
»Ich habe ein paar Snacks in der Handtasche, falls du etwas essen willst.«
»Falls ich Hunger bekomme, kaue ich auf meinem Arm herum. Aber danke für das Angebot. Lass uns lieber gleich zu Lucas fahren, ich stelle meine Tasche ab, und wir machen uns an die Arbeit.«
Wir mischten uns unter die Menschenmenge, die sich zum Bahnsteig des Heathrow Express schob.
»Geht es dir gut, Ella? Bist du sicher, dass du das schaffst?«
Lucas hatte mir dieselbe Frage gestellt. Ich nickte.
Es war ein so schönes Gefühl, im Zug neben Charlie zu sitzen. Ich hätte ihn am liebsten gleich noch einmal umarmt. Mir fiel ein, wie ich ihm zum ersten Mal, als Kind, gesagt hatte, dass ich ihn liebe.
Ich sagte es erneut. »Ich liebe dich, Charlie.«
Ich hatte erwartet, dass er mit einem Scherz reagieren würde. Das tat er nicht. »Ich liebe dich auch, Ella.«
Er bat mich um ein Update wegen Jess. Ich erzählte ihm, was Lucas und ich bisher unternommen hatten. Charlie hatte gleich nach der Landung seine E-Mails gecheckt. Walter hatte gemailt. Sie hatten nichts von ihr gehört. Sie saßen auf gepackten Koffern, bereit, ebenfalls nach London zu fliegen, sobald Charlie den Startschuss gab.
»Glaubst du, es ist alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Aber natürlich. Natürlich.«
Er klang so überzeugt, doch woher nahm er diese Sicherheit? Jess war ein Kind, allein in der großen Stadt. Was hatten Mum und Walter sich nur dabei gedacht, sie ganz allein nach London zu schicken? Ich ignorierte die innere Stimme, die mich daran erinnerte, dass ich ebenfalls mit zweiundzwanzig Jahren allein nach London gegangen war. Doch meine Situation war eine andere gewesen. Ich hatte Lucas. Jess hatte niemanden.
All das hatte ich bewirkt. Ich sprach es nicht aus, doch der
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