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Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica McInerney
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ich anfangen sollte. Ich wusste nur, die Ablageflächen waren tabu. Aber die sah man ohnehin nicht. Denn alles war bedeckt mit Büchern, Papieren, Zeitschriften … Ich räumte die Asche aus dem Kamin und leerte sie in einen Eimer, der ebenfalls fast randvoll war. Als ich mich wieder aufrichtete und umdrehte, sah ich es. Ich hatte es noch nicht bemerkt – vielleicht hatte es am Jetlag gelegen, vielleicht hatte ich ihm den Rücken zugewandt. Ich ließ den Eimer fallen. Die Asche verteilte sich auf dem Boden. Ich stieg achtlos darüber hinweg und ging mit angehaltenem Atem auf die Wand zu.
    Auf einen Foto-Schrein für Felix.
    Dort hing, in Rahmen, jedes einzelne Bild, das ich Lucas je geschickt hatte. Ich mit Felix, nur Minuten nach der Geburt. Aidan mit Felix. Wir alle drei. Felix in seinem Strampler. Ein lachender Felix. Ein weinender Felix. Ein krabbelnder Felix. Aidan und ich, die ihn gemeinsam anlachen, damit er in die Kamera winkt, damit er Großonkel Lucas in London zuwinkt. Wohin ich auch sah, sah ich meinen Felix, sein wunderschönes Gesicht, seine blaugrünen Augen, sein breites, wundervolles Lächeln – das schönste Lächeln, das ich je gesehen hatte. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und doch den Blick nicht lösen. Felix in der Badewanne. Felix auf der Schaukel. Felix mit Mum, mit Walter. Mit Jess. Es gab eine gerahmte Dreiergruppe: Felix mit Charlie. Auf dem ersten Bild lachen sie, auf dem zweiten gähnen, auf dem dritten schlafen sie. Felix hatte liebend gern auf Charlies Bauch geschlafen. »Meine Hollywoodschaukel für Kinder«, hatte Charlie gesagt und sich stolz auf seine Rundung geklopft. Es gab unzählige Fotos von Aidan und Felix, alle von mir aufgenommen. Aidan und Felix, Nase an Nase. Aidan und Felix sehen in die Kamera, die Ähnlichkeit ist verblüffend, gleiche Gesichtsform, fester Blick, gleiche Augenfarbe. Felix auf Aidans Schultern. Felix, der Große Erwartungen liest, Aidans Hand mit dem Buch ebenfalls im Bild. Felix in einem grünen Strampelanzug, auf Aidans Schoß, am St. Patrick’s Day. Felix und Aidan mit Weihnachtsmützen, am ersten Weihnachtsfest von Felix.
    Da traf es mich mit Macht. Da kam der Schmerz. Felix’ erstes Weihnachtsfest. Felix’ einziges Weihnachtsfest.
    Stopp.
    Sofort.
    Beschäftige dich.
    Ich kehrte die Asche auf, den Rücken zu den Bildern gewandt. Ich wünschte, ich hätte sie niemals gesehen, ich wünschte, sie wären nicht dort.
    Denk an etwas anderes.
    Charlie. Denk an Charlie. Raus aus diesem Zimmer und an Charlie denken. Ich schaffte es in mein Zimmer und holte tief Luft. Ich war froh, dass ich allein war.
    Denk an Charlie, nicht an Felix.
    Atmen.
    Atmen .
    Ich sank auf das Bett und atmete, ballte die Fäuste, atmete und atmete und zwang meine Gedanken in eine andere Richtung. Zu Charlie.
    Schnell.
    Charlie war meine Zuflucht. Während der ersten Monate, als in meinem Kopf lautstark der Schrecken und die Angst regierten – oder, schlimmer noch, wenn der weiße Nebel kam und Ödnis und Verwirrung mit sich brachte –, verschaffte mir der Gedanke an Charlie stets ein wenig Erleichterung, wenn auch nur für einen Augenblick.
    Schnell.
    Hol Charlie in dein Denken. Denk an eure erste Begegnung. Denk an ihn. Nicht an Felix. Nicht an Felix, nicht an Aidan. Oder Jess. Nur an Charlie. Denk an früher. An ganz früher.
    Schnell.

Kapitel 5
    Wenn mir jemand vor unserer ersten Begegnung gesagt hätte, dass Charlie, mein künftiger Stiefbruder, auch mein bester Freund würde, hätte ich ihm nicht geglaubt. Meine Mutter hatte sich nur sehr vage über den Sohn ihres neuen Freunds geäußert.
    »Er ist ein oder zwei Jahre älter als du und offenbar ziemlich aufgeweckt. Walter ist sehr stolz auf ihn.«
    Mum und Walter brachten uns erst zusammen, als sie sich ihrer Sache sicher waren. Mum sagte später einmal, das sei die angeratene Vorgehensweise auf dem Weg zu einer harmonischen Patchwork-Familie. Walter ging streng nach Lehrbuch vor. Das war das Deutsche in ihm, hatte Mum mit einem Lachen ergänzt. Sie lachte nur noch, seit sie Walter kannte.
    Meine erste Begegnung mit Charlie fand bei einem Abendessen statt. Ich war neun, er elf. Wir trafen uns weder in seinem noch in meinem Heim, sondern auf neutralem Grund. In einem Familienrestaurant in Hawthorn. Mum hatte Mühe gehabt, einen Parkplatz zu finden, und als wir eintrafen, saßen Walter und sein Sohn bereits am Tisch. Sie standen zur Begrüßung auf.
    Mein erster Eindruck war nicht schmeichelhaft. Ich will es

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