Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
gar nicht beschönigen. Charlie war dick. Heute weiß ich, dass man das anders nennen kann – vollschlank oder an einer Kilostörung leidend, damals aber sah ich einen dicken Jungen mit kurzem, dunklem Haar. Ich war ein dürres Kind mit langem, dunklem Haar. Doch irgendwie machte es seine Körperfülle einfacher, mit ihm zu reden. Ich hatte damals, dank Lucas, sehr viele Bücher von Enid Blyton gelesen. Bei Charlies Anblick musste ich sofort an Dicki denken, einen der jungen Detektive, den Meister der Verkleidung, der sich sogar als Polizist ausgeben und die Erwachsenen immer wieder täuschen konnte. Ich musste mich sehr konzentrieren, um Charlie nicht mit Dicki anzusprechen, als meine Mutter und sein Vater uns nebeneinander an den Tisch setzten und so taten, als würden sie nicht mit Argusaugen verfolgen, ob und wie wir uns vertrugen.
»Hi, Ella«, sagte Charlie.
»Hallo, Charlie«, sagte ich. Hallo, Dicki, dachte ich.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Bestens, danke.« Dann besann ich mich auf meine Manieren. »Und wie geht es dir?«
»Sehr gut, danke.«
Unsere Eltern strahlten, als wäre ihnen die Verkupplung ihres Lebens gelungen.
Leider hatte dieses kurze Gespräch unser Wissen in der Kunst der Konversation erschöpft. Wir schwiegen, während meine Mutter mit der Kellnerin sprach, ein wenig zu viel kicherte und mit Walter Händchen hielt, natürlich unter dem Tisch. Ich fragte mich, vor wem sie das verbergen wollte, vor Charlie oder mir. Es gelang ihr jedenfalls nicht.
Wir waren in ein italienisches Restaurant gegangen. Die Kellnerin verkündete mit perfektem Akzent die Tagesgerichte. Ich blickte zu Charlie und bemühte mich sehr, höflich zu sein und das seltsame, flaue, traurige Gefühl in meinem Bauch zu ignorieren.
»Magst du italienisches Essen?«
»Sì« , sagte er.
»Sieh was?«, fragte ich verwirrt.
»Das sollte witzig sein«, sagte er. » Sì heißt ja auf Italienisch. Ja, ich mag italienisches Essen.«
Offenbar magst du jede Art von Essen, dachte ich bei mir. »Sprichst du Italienisch?«
»Sì« , sagte er wieder. »Außerdem Deutsch, Englisch, ein bisschen Französisch und Spanisch.«
Mir wäre beinahe herausgerutscht: Ich glaub, mein Schwein pfeift! Ich hatte den Ausdruck aus einem Cartoon und glaubte, das hieße: Wow, großartig! Mum aber mochte es nicht, wenn ich so sprach.
»Wie sagt man dazu?« Ich zeigte auf ein Glas und wartete auf die italienische, französische oder spanische Vokabel.
»Glas«, sagte Charlie.
Wir platzten beide los.
»Und dazu?« Ich zeigte auf eine Gabel.
»Gabel.«
»Und zu dem da?« Ich wies, hemmungslos kichernd, auf das Brot in seinem Korb.
»Brot.«
Unsere Eltern mussten uns zwei Mal ermahnen, damit wir uns beruhigten.
Vierzehn Tage später sahen wir uns wieder. Walter hatte uns zum Abendessen in sein großes Haus in Richmond eingeladen.
»Hi, Ella.«
»Hi, Charlie«, sagte ich. Er war noch immer dick, aber wenigstens hatte ich gewusst, was mich erwartet.
»Möchtest du mein Spielzimmer sehen?«
»Klar.«
Mit den Blicken unserer Eltern im Rücken, die hofften, dass das erste gelungene Treffen kein Strohfeuer war, gingen wir durch die Eingangshalle zu seinem Zimmer. Es war wortwörtlich ein Spielzimmer. In der Mitte stand eine Tischtennisplatte, ringsum hingen Regale, streng sortiert: Auf einem lagen Puzzles, auf einem anderen Brettspiele. Es gab einen Korb mit Bällen – einem Baseball, einem Basketball, einem Fußball. Das Zimmer war eine Mischung aus Sport- und Spielzeugladen. Und es war sehr ordentlich. Das beeindruckte mich weit mehr als die Spielsachen selbst. Ich war damals nicht sehr ordentlich.
»Habt ihr eine Putzfrau?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Ich mach das alles selbst. Ich bin sehr akribisch.«
»Ist das eine Krankheit?« Die Frage war mir ernst.
Charlie lachte laut. »Du bist echt komisch.«
»Echt?«
»Zum Schießen.«
Es ist wundervoll, wenn jemand über einen lacht, solange es aus den richtigen Gründen geschieht. Man strengt sich an, man will den Witz noch steigern. Besonders, wenn dieser Jemand so wie Charlie lacht, von Kopf bis Fuß. Er schüttelte sich buchstäblich vor Lachen. Das tut er heute noch, auch wenn er nur noch halb so dick ist. Aber damals war es die reinste Zirkusnummer. Ein Junge kneift die Augen zu und lacht mit vollem Körpereinsatz, und das über eine Bemerkung, die nicht einmal witzig gemeint war.
Dabei war mir in dem Moment wirklich nicht zum Lachen zumute. Ich musste etwas
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