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Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica McInerney
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irgendetwas in der Schule aufregte, wandte ich mich ohnehin an sie. Und wenn ich mit einem anderen Menschen reden wollte, hatte ich Charlie. Walter war einfach, tja, Walter war einfach da. Walter war der Mann mit Bart und Akzent, der meine Mutter vergötterte und von ihr vergöttert wurde. Und er war ja ganz okay. Außerdem arbeitete er meist – er hatte ein Büro auf der Collins Street und eins zu Hause. Am Wochenende kümmerte er sich um meine Mutter und den Garten. Er liebte Rosen und Rhabarber.
    »Alles R«, sagte Charlie eines Nachmittags, als wir im Spielzimmer Scrabble spielten. Charlie war zwar sehr intelligent, doch ich hatte den größeren Wortschatz und gewann meist. Darum hatte Charlie beschlossen, dass er diesmal französische Wörter bilden dürfte und ich bei Englisch bleiben müsste. Es lief erstaunlich gut, wenn ich auch keine Ahnung hatte, was er auf das Spielfeld legte. »Vertrau mir, Ella«, hatte er gesagt. »Es wäre in niemandes Interesse, wenn ich schummeln würde.«
    »Was?« Ich schaute von meinem Bänkchen, von meinen schwierigen Buchstaben auf. »Was ist alles er?«
    »Nicht ›er‹. Der Buchstabe R. Dad züchtet nur Pflanzen, die mit R anfangen. Ist dir das nicht aufgefallen?«
    Ich schaute aus dem Fenster. Rosen. Rhabarber. Rucola.
    »Wir sollten ihm zu Weihnachten ein Riesenkaninchen schenken«, sagte ich.
    »Ein Wiesenkaninchen. Ein Wiesenkaninchen namens Wudolph.« Charlie imitierte gern die Ausdrucksweise seines Vaters, weil Walter das R häufig wie ein W aussprach. Charlie machte das sogar in Gegenwart seines Vaters, und Walter lachte dann. »Ach, Charlie, du bist echt ein Komiker!« So etwas traute ich mich nicht. Doch wenn wir beide allein waren …
    »Nein, kein Wiesenkaninchen. Ein Wentier. Wudolph, das wotnasige Wentier.«
    »Und einen Waben …«
    »Der Wabe, der Wabe …«
    Wir sangen es gemeinsam. »Der Wabe, der Wabe, der bracht’ die erste Gabe.«
    Vermutlich waren wir eine Patchwork-Familie wie aus dem Bilderbuch. Jedes Elternteil ein Kind, eine glückliche zweite Ehe, ein schönes Haus, viel Geld, zwei Mal im Jahr Urlaub, beide Kinder in der Schule gut, Charlie ganz besonders gut. Er hatte nicht nur ein Talent für Sprachen, er war auch ein Genie in Mathe. Ich war schlecht in Mathe, aber gut in Englisch. Nachdem ich endlich die Rechtschreibung gelernt hatte und die Grammatik beherrschte, schrieb ich kleine Büchlein oder las, was immer mir Lucas schickte. Am allerliebsten kletterte ich in den Baum vor meinem Fenster, schlang ein Bein um den größten Ast und las dort stundenlang. Noch schöner war es, wenn es draußen kühler war und sich Charlie unter den Baum setzen und seine Hausaufgaben machen konnte. Sonst blieb er im Haus. Er bekam in der Sonne Nesselsucht. Im Großen und Ganzen aber ging es uns sehr gut.
    Und dann kam Jess.
    Wir hatten eine lange Vorwarnzeit gehabt. Genau gesagt, acht Monate. Mum und Walter hatten Charlie und mich zu sich gerufen. »Wir wollen es außerhalb dieses Hauses noch nicht verbreiten«, hatte Mum gesagt, »aber es gibt fantastische Neuigkeiten. Na, habt ihr beide eine Ahnung?«
    Wir hatten gerade Monopoly gespielt und waren nicht begeistert, dass wir unterbrochen wurden.
    »Wir ziehen um?«, hatte Charlie gefragt und gegähnt.
    »Ihr lasst euch scheiden?«, hatte ich mich wieder am Sarkasmus versucht.
    Mum hatte nach Walters Hand gegriffen. »Wir bekommen ein Baby!«
    Wir hatten damals »Wow!« und »Toll!« gerufen, doch sobald die beiden das Zimmer verlassen hatten, hatte mich Charlie angesehen und »Bah« gesagt.
    »Bah«, hatte ich zugestimmt. Bah zu dem Baby. Bah zu der Tatsache, dass ein Baby hieß, sie hatten etwas ganz Bestimmtes getan. Bah auch zu der Frage: Was hieß das für uns?
    »Wir waren zuerst da«, hatte Charlie selbstbewusst festgestellt. »Es wird sich nichts ändern. Keine Sorge.«
    Er irrte sich gewaltig. Es änderte sich alles. Mit Jess, sogar schon vor Jess. Sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin wurde ich in das ungenutzte Zimmer ausquartiert, den kleinsten Raum im Haus, weil mein Zimmer für Jess benötigt wurde.
    »Aber ich werde bald elf. Das Baby ist doch viel kleiner als ich«, protestierte ich. »Sollte das Baby nicht den kleinsten Raum bekommen?«
    »Sogar ein kleines Baby braucht viel Platz, Ella«, erklärte Walter.
    »Mach Platz!«, sagte Charlie später. »Sei ein braver Hund.«
    Ich konnte nicht darüber lachen. Ich liebte mein Zimmer.
    Mum war drei Tage vor der Geburt fünfunddreißig

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