Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
geworden. Walter war zweiundvierzig. Sie waren ältere Eltern mit der Energie älterer Eltern, und diese Energie wurde ganz und gar gefordert. Jess verlangte, vom Moment ihrer Geburt an, sehr viel Augenmerk. »Es wird sich nichts ändern«, kommentierte Charlie später oft. Jess kam drei Wochen zu früh zur Welt und musste zwei Wochen lang in den Brutkasten.
Wir wurden ins Krankenhaus gefahren, um sie zu bestaunen. Charlie interessierte sich mehr für die Technik als für seine neue Halbschwester. Er legte beide Hände an die Glasscheibe und betrachtete die Brutkästen. Mum, in Bademantel und Hausschuhen neben dem Brutkasten ganz links, winkte uns zu. Wir konnten unsere neue Schwester zwar nicht sehen, doch wir winkten brav zurück. Nachdem Walter uns dazu aufgefordert hatte.
Als Mum zu uns in den Flur kam, bombardierte Charlie sie mit Fragen. Er wollte alles wissen – über den Brutkasten, nicht das Baby. Ich erinnere mich bis heute deutlich, wie erstaunlich ich es fand, dass Mum wieder ihre normale Figur hatte und die große Kugel, die in ihrem Bauch gewesen war, nun schlafend in einem gläsernen Kasten lag. Der Brutkasten hielt das Baby warm, erklärte Mum. Walter erläuterte es etwas ausführlicher und wissenschaftlicher. Es sei wichtig, dass ein Baby, solange die Lungen noch nicht voll entwickelt waren, in einer sterilen Umgebung war.
Charlie hörte genau zu. »Kapiert, die Mischung aus Wärme und sterilen Bedingungen macht’s«, meinte er nickend
»Ich hab eine Idee«, sagte Charlie, als wir wieder durch die Glasscheibe auf unsere neue Halbschwester schauten. Mum und Walter diskutierten neben uns, ob das Baby Jessica oder Molly heißen sollte. Auf dem Hinweg war uns ein Poster aufgefallen. Das Krankenhaus veranstaltete ein Fundraising. »Man könnte da Eier reinlegen und mit ausbrüten. Und als Hühnerbauer was dazuverdienen. So würde man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Bildlich gesprochen.«
Bei der Vorstellung, wie Hunderte frisch geschlüpfter Küken durch das Krankenhaus huschten, musste ich schon kichern, aber mehr noch über das »bildlich gesprochen«. Es war Charlies neuer Lieblingsausdruck. »Ja, danke, Dad. Ich bin voll. Bildlich gesprochen.« »Ja, ich bin bereit für die Schule. Bildlich gesprochen.«
Mum war nicht amüsiert. Sie schimpfte, weil wir so albern waren.
Walter schimpfte dann zu Hause. »Eure kleine Schwester ist noch sehr zart. Da gibt’s nichts wumzualbern.«
Das Baby – Jessica, so einigten sie sich schließlich, und bald schon nur noch Jess – war vielleicht in den ersten beiden Wochen zart gewesen, doch als es nach Hause kam, musste man glauben, es hätte in einem Mega-Kräfte-Generator gelegen. So etwas wie dieses Geschrei hatte ich noch nie gehört. Die Wände bebten. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass das Baby in seinem ersten Lebensjahr jemals länger als zwei Stunden am Stück geschlafen hätte. Wir natürlich auch nicht. Außerdem musste Jess die ganze Zeit getragen werden, und sie hatte Lieblingsmenschen. Ich gehörte nicht dazu.
Eines Samstagnachmittags, Jess war etwa vier Monate alt, legten Charlie und ich ein Puzzle. Walter war in seinem Stadtbüro. Er arbeitete häufig auch am Samstag. Mum faltete Wäsche und telefonierte. Da erklang ein Weinen aus Jess’ Zimmer. Mum rief: »Ella, Darling, kannst du bitte nach ihr sehen?«
Unwillig legte ich mein Puzzleteil beiseite. Ich war gerade an der Ecke, und die war so schön schwierig. Als ich in Jess’ Zimmer kam, das für mich insgeheim noch immer meins war, fuhr ich zusammen. Das Geschrei war furchtbar laut. Und wurde noch lauter, als ich Jess aus ihrer Wiege hob. Je mehr ich an ihr ruckelte, umso lauter schrie sie. Ich brachte sie ins Wohnzimmer. Das Weinen wurde zu einem Kreischen. Charlie legte sich die Hände auf die Ohren.
»Ich glaub, da stimmt was nicht«, sagte ich, so laut ich konnte. »Ist sie krank?«
Mum sagte etwas ins Telefon und legte auf. Hinter dem Stapel Babywäsche war sie kaum zu sehen. Ich staunte immer, wie viel Wäsche so ein Baby produzierte. »Sie ist nicht krank. Du hältst sie falsch, Ella. Also wirklich, wie oft muss ich es dir zeigen?«
»Ich halte sie nicht falsch. Ich mach es doch genau so, wie du’s mir gezeigt hast.«
»Tust du nicht, Ella. Du hast die Hände an der falschen Stelle. Du weißt doch, dass du sie am Kopf abstützen musst.« Mum nahm mir Jess ab, und Jess hörte augenblicklich auf zu weinen. Dann, zu meinem größten Entsetzen, reichte Mum sie
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