Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
an.
»Passt bloß auf«, rief ich, so laut ich konnte. Und ich war ziemlich laut. »Ich hab den schwarzen Gürtel.«
Gelächter. Die nächste Zitrone flog in Richtung Charlie, der noch immer auf dem Boden lag. Sie traf ihn am Kopf.
Ich schrie erneut.
Es ist berauschend und machtvoll, wenn die Wut in einem hochkocht wie eine Gasflamme, ein Schub reiner Emotion. Ich drehte meine Flamme sehr weit auf, dann ging’s los. Ich war zwölf, für mein Alter ziemlich groß, dünn und wendig. Ich hatte keine Ahnung von Karate, aber dass man schnell und häufig um sich treten, um sich schlagen musste, das wusste ich aus dem Fernsehen. Es war pures Glück, doch der erste Tritt landete bei dem größten der vier Jungen, und zwar an der Stelle, wo es richtig wehtut. Er krümmte sich. Ein weiterer Tritt traf die Kniekehle eines anderen. Er sackte ein. Damit hatte sich meine Kampfkunst zwar erschöpft, aber das wussten die Jungs ja nicht. Ich brüllte, ich machte ein derartiges Geschrei, dass ein Nachbar vor die Tür kam.
»Was ist denn hier los?« Er war über einen Meter neunzig groß und sehr kräftig.
Es war der Anblick des Erwachsenen, der die Jungen in die Flucht trieb, nicht ich, das weiß ich wohl, dennoch sah ich mit Vergnügen zu, wie sie die Beine in die Hand nahmen und davonrannten, der Größte gebückt und stöhnend.
»Alles in Ordnung, ihr zwei?«, wollte der Nachbar wissen.
Ich keuchte, doch ich nickte. Charlie nickte auch.
Wir packten eilig zusammen. Ich sah zu Charlie. Sein Gesicht war gerötet, aber er lächelte.
Erst als wir losgingen, sprach er wieder. »Wow, Ella.«
Wir erzählten weder Mum noch Walter, was geschehen war. Das blieb unser Geheimnis.
Ich wurde dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Ich durchlebte die Pubertät, die mit einigem Schrecken kam. Charlie wurde größer, noch ein wenig dicker und vor allem klüger. Er war Jahr um Jahr Klassenbester, erwies sich als begabter Debattierer, bewarb sich als Austauschschüler beim Rotary-Programm und wurde auf Anhieb genommen. Nach der Schule erwartete ihn ein Jahr in den USA. Ich glaube, ich war sogar noch stolzer auf ihn als Walter.
Auch Jess wurde älter. Das Sprichwort, je oller, desto doller, traf auf sie bereits in jungen Jahren zu. Zu Hause drehte sich wie immer alles nur um sie. Die Gefühle, die ich in ihrer Gegenwart verspürte, waren oftmals schwierig, stachelig, nicht warm und freudig, wie ich Charlie gegenüber empfand. Es beschäftigte mich mit den Jahren immer mehr. Lag es daran, dass sie nur zur Hälfte meine Schwester war? Oder mochte ich sie einfach nicht?
Wir hatten durch den großen Altersunterschied – elf Jahre in meinem, dreizehn in Charlies Fall – nicht viele Berührungspunkte, erst recht nicht, als Charlie und ich auf die Highschool kamen. Außerdem waren wir auch nach der Schule sehr beschäftigt. Ich spielte Hockey, sang im Schulchor und arbeitete ehrenamtlich in der örtlichen Bibliothek. Charlie lernte und lernte. Und wenn er nicht lernte, schrieb er seinen zahlreichen Brieffreunden. Unser Briefkasten war immer voll, jeden Tag, mit Post aus der ganzen Welt. Auch das gehörte zu Charlies Austauschprogramm. Er hatte sich in dessen Rahmen um Brieffreunde beworben und war süchtig geworden. Und er schrieb nicht etwa einen Brief, den er an alle verschickte. Er setzte jeden Brief einzeln und mit Sorgfalt auf.
Charlie verschickte auch regelmäßig Fotos von sich, die ich für ihn machte. Er hatte überhaupt kein Problem mit seinem Gewicht. Er strahlte in die Kamera, die Bäckchen rot, der Magen rund. Mum hatte es mit Ernährungsberatern und sogar Psychologen versucht, um an die Ursache seiner Gewichtsprobleme zu gelangen. Eines Nachmittags bat Charlie Mum um ein Gespräch und erklärte ihr ruhig und freundlich, sie möge ihn in Frieden lassen und sich keine Sorgen machen.
»Ich bin die Ursache meiner Gewichtsprobleme, Meredith. Ich esse zu viel. So simpel ist das.«
Mum konnte ihm nicht einmal mit dem Spruch kommen: »Aber wenn du dünner wärst, wärst du viel glücklicher«. Denn Charlie war der glücklichste Mensch überhaupt. Glücklich und beliebt, selbst bei den Mädchen. Ihn störte seine Körperfülle nicht, warum also sollte sie die anderen stören?
Walter arbeitete nach wie vor zu viel. Auch Mum hatte nun einen Job, sie arbeitete stundenweise als Avon-Beraterin, hauptsächlich zum Spaß und wegen der Kosmetikpröbchen, weniger aus Geldnot. Die restliche Zeit war Jess gewidmet. Bei fünf unruhigen Menschen musste
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