Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
das Familienleben gut organisiert sein. Glücklicherweise war es das. Das lag an Walter. Er machte Listen und Pläne. Walter und Mum hätten sich ohne Weiteres eine Putzfrau leisten können, doch sie fanden, es wäre charakterbildend, wenn Charlie und ich einen Teil der Hausarbeit übernahmen, als Gegenleistung für unser Taschengeld.
Jess war wegen ihres jungen Alters von den Pflichten ausgenommen, Charlie und ich aber hatten, obwohl wir auf die Highschool gingen, viel zu tun. Ich musste die Spülmaschine ein- und ausräumen, die Betten machen und jeden Samstag staubsaugen. Charlie musste die Veranda kehren, den Rasen mähen und das Bad putzen. Als er sich einmal beklagte, tauschte Walter einfach unsere Aufgaben, sodass ich die Veranda kehren und Charlie staubsaugen musste.
»Jetzt sollte es euch wieder Spaß machen«, meinte Walter, als er stolz den neuen Arbeitsplan an die Wand heftete.
»Es funktioniert tatsächlich«, sagte Charlie am nächsten Samstag. »Ich habe mit diesem Staubsauger so viel Spaß, ich könnte vor Freude in Ohnmacht fallen.«
»Ich auch«, sagte ich mit künstlicher Begeisterung. »Sieh nur, wie viel Dreck ich zusammengekehrt habe. Es ist faszinierend.«
In den folgenden Tagen fanden wir – zu unserer Belustigung, zum Missfallen unserer Eltern – alles faszinierend, wundervoll oder unglaublich interessant.
»Jetzt reicht es, ihr zwei«, sagte Mum eines Abends.
»Wir freuen uns nur des Lebens«, erwiderte ich.
»Tut ihr nicht. Ihr nervt.«
Bei Jess war alles anders. Ihr sagten Mum und Walter nicht, dass bestimmte Worte tabu waren, dass sie nervte. Von ihr wurde auch nicht viel erwartet. In ihrem Fall reichte es, entzückend und niedlich zu sein. Ich habe oft mit Charlie darüber gesprochen, auch später noch. Es war, als ob Jess unsere Eltern vom ersten Tag an in den Bann geschlagen hätte. Sie hatte Mum und Walter im Griff, nicht umgekehrt. Und wir zwei? Wir waren ihre Bediensteten.
Wir hatten von morgens bis abends zu tun: aufräumen, das Auto putzen, die Spülmaschine ausräumen, den Teller leer essen. Widerrede wurde nicht geduldet. Doch als Jess alt genug für eine eigene Meinung war, lautete die Antwort immer Nein.
»Jess, räum dein Zimmer auf.«
»Nein.«
»Jess, räum deine Spielsachen weg.«
»Nein.«
Wenn wir unseren Eltern so getrotzt hätten, hätten sie mit uns geschimpft. Bei Jess lächelten sie bloß.
»Du bist echt ein Wacker, meine Jessie«, sagte Walter nur.
Charlie und ich verdrehten die Augen. »Du bist echt ein Wotzlöffel, meine Jessie«, flüsterte mir Charlie außer Hörweite zu. »Ein Wüpel. Ein Waufbold.«
Mit meiner Mum war es genauso schlimm. Jess konnte nichts falsch machen. Ein Wutanfall? Ausdruck von Energie. Ein Tränenausbruch? Zeichen ihrer geistigen Reife. »Sie ist echt eine Nummer!«, hörte ich Mum am Telefon mit Freunden. »Glaubt mir, sie ist das Licht unseres Lebens.«
Jess half natürlich, dass sie schön war – ist. Äußerlich schön. Sie war – ist – zierlich und puppenhaft, mit rundem Gesicht, rosigen Wangen, großen Augen und einem Schopf goldener Locken. Als Kind hatte sie sehr viele Locken, weil sie sich bis zum Alter von sieben Jahren weigerte, sich die Haare schneiden zu lassen. Ungelogen. Als Jess drei Jahre alt war, war Mum mit ihr zum Friseur gegangen und eine Stunde später zurückgekommen, unverändert, bis auf die roten Gesichter. Mum aus Verzweiflung, Jess aus Trotz.
»Sie hat Zeter und Mordio geschrien, als sie die Schere nur gesehen hat«, berichtete Mum an Walter. »Beim nächsten Mal gehst du.«
Walter versuchte es. Ebenso vergeblich. Im folgenden Monat probierte Mum es ein weiteres Mal. Sie kam heim, in Tränen aufgelöst. Mum, nicht Jess. Walter versuchte es ein letztes Mal. Dann gaben sie es auf.
Eines Abends sprachen Charlie und ich, während wir die Küche aufräumten, beiläufig über Jess und ihre Haare. Sie wurden von Woche zu Woche wilder, eine Masse langer, filziger, goldener Knoten.
»Ich weiß!«, sagte Charlie im Scherz. »Wir schneiden ihr heute Nacht im Schlaf das Haar.«
Jess, die das zufällig gehört hatte, petzte, und wir beide wurden ausgeschimpft, weil wir gemein zu Jessie waren.
»Das war doch nur eine Idee«, sagte Charlie zu Jess, nachdem wir mit ihr geschimpft hatten, weil sie uns verpetzt hatte.
»Aber eine sehr gute«, warf ich ein. »Du siehst schon ein bisschen wüst aus, Jess, wenn ich das sagen darf.«
»Das ist mein Haar.« Jess stampfte mit dem Fuß auf. »Ich
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