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Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica McInerney
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Studenten lagen auf einem Stapel von Ordnern auf dem Schreibtisch. Als Erstes aber öffnete ich das Oberlicht, steckte den Kopf hinaus, atmete die kalte Londoner Luft ein, spürte den sanften Sprühregen im Gesicht und genoss den Ausblick. Er war nicht spektakulär, aber so typisch London: Dächer, Baumwipfel, Ziegelwerk, Schornsteine. Und wenn man sich ganz weit hinauslehnte, konnte man sogar den Hyde Park erahnen.
    »Hallo, kleiner Freund«, grüßte ich den ausgestopften Fuchs, als ich mich an den Schreibtisch setzte. Er sah noch räudiger aus. Ich streichelte ihn sanft. Die vertrauten Fuchs-Objekte waren alle da – die Gemälde, der Lampenschirm, der Kerzenständer. Aber ich entdeckte zwei neue Stücke – ein besticktes Kissen mit Fuchs-Motiv und einen kleinen, neugierigen Porzellan-Fuchs. Wahrscheinlich waren auch das Geschenke von Henrietta. Lucas hatte mir irgendwann erzählt, dass ihm der Fuchs, den ich als Kind befreien wollte, ihretwegen so wertvoll war. Er war das erste Geschenk, das sie ihm je gemacht hatte.
    Ich schlug die Akten auf. Die Unterlagen waren sorgfältig geordnet – Foto, kurzer Lebenslauf, Studiengang. Wieso war ich überrascht? Selbstverständlich bemühten sich junge Akademiker um einen möglichst guten Eindruck.
    Ich machte mir erste Notizen. Vierzig Minuten später war meine Arbeit beendet. Auf dem Blatt standen vier Zeilen.
    Mark, 27, Mathematik, Brighton.
    Harry, 28, Biochemie, Liverpool.
    Peggy, 28, Englische Literatur, Newcastle.
    Darin, 29, Sprachen, geboren im Iran, aufgewachsen in Devon.
    Das war alles. Ich war eine großartige Detektivin. Ich hatte grundlegende Fakten gesammelt, weiter nichts. Ich hätte, um den Dieb zu fassen, ebenso gut Ene, mene, muh aufsagen können.
    Einen kurzen Moment lang hatte ich das Gefühl, über mir zu schweben und auf mich herabzublicken. Da saß ich hoch unter Lucas’ Dach, las vertrauliche Informationen zu vier Fremden, und so etwas erwog ich ernsthaft als meinen Job? Selbstverständlich konnte ich noch Nein sagen. Ich könnte sagen, es tut mir wirklich leid, Lucas, danke für das Angebot, doch ich muss weiterziehen.
    Aber wohin? Was sollte ich sonst tun? Lucas’ Einladung war im richtigen Moment gekommen. In Westaustralien hatte mich schon wieder die Unruhe gepackt. Am Anfang hatte ich die vielen Stunden und die schwere körperliche Arbeit gebraucht, doch dann hatte sich etwas verändert. In mir war Rastlosigkeit hochgekommen. Sehnsucht. Eine subtile Veränderung in meinem Empfinden.
    Mir kam, wie so häufig, die Psychologin in den Sinn, die ich aufgesucht und die mir die Phasen der Trauer erklärt hatte. Ich war mitten in unserer zweiten Sitzung aufgestanden und gegangen. Fassungslos. Die Psychologin hatte geäußert, meine Gefühle wären ganz und gar gewöhnlich. Jeder, der einen geliebten Menschen verloren hätte, durch Krankheit, Unfall oder einen natürlichen Tod, durchlebte diese Phasen. Ausgeschlossen, hatte ich erwidert. Wie konnte sie das, was ich empfand, diesen Abgrund an Trauer, diesen Schmerz, diese wütende Pein, mit dem Kummer eines Menschen vergleichen, dessen betagter Vater oder dessen Großmutter nach einem langen Leben, nach vielen glücklichen Jahren im Kreise der Familie verstorben war?
    Die Psychologin hatte sehr gelassen reagiert.
    »Das ist kein Trauerwettbewerb, Ella. Ich sage nicht, dass das eine schwerer als das andere wiegt. Sie haben mich missverstanden. Ich sage nur, dass alle etwas Ähnliches durchleben, Schock, Verleugnung …«
    »Haben Sie jemanden verloren?« Hinterher hatte ich mich für meine brüske Art geschämt.
    »Hier geht es nicht um mich, Ella. Ich bin nie in Ihrer Situation gewesen, aber …«
    »Dann wissen Sie auch nicht, was ich empfinde. Sie können mir nicht helfen. Tut mir leid, das können Sie nicht.« Ich hatte nach meiner Tasche gegriffen.
    »Ella, bitte …«
    Es war aus mir herausgeplatzt. »Mein Sohn Felix war zwanzig Monate alt. Er hatte noch das ganze Leben vor sich. Er hätte alles werden, alles sein können. Er hätte ein wundervolles, fröhliches, aufregendes, fantastisches Leben führen können, wenn nicht meine Halbschwester, wenn nicht mein Ehemann …«
    »Ella, bitte setzen Sie sich wieder. Sie müssen die Schuldzuweisungen hinter sich lassen. Sie fügen sich mit Ihrer Wut nur selbst Schmerz zu, Sie fügen …«
    Den Rest hatte ich schon nicht mehr gehört. Ich war gegangen und hatte die Psychologin nie mehr aufgesucht. Sie war im Irrtum. Die Trauer kennt keine

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