Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
Phasen. Die Trauer ist ein allumfassendes, permanentes, unabänderliches, unumkehrbares Gefühl. Sie ist da, wenn man wach wird, und sie ist da, wenn man zu schlafen versucht. Es ist, als ob man von Schmerz und Pein und Kummer durchtränkt wäre, als ob man tage-, wochen- und monatelang darin gebadet hätte, bis die Trauer in jede einzelne Pore, bis in die Knochen, bis ins Blut gedrungen ist. Die Trauer wird das Ich. Das Ich wird Trauer. Aber all das wusste diese Therapeutin nicht. Ich konnte die Trauer nicht hinter mir lassen, weil ich zur Trauer geworden war. Alles, was ich noch tun konnte, alles, was ich seither versucht hatte, war, damit zu leben. Damit – und ohne Felix.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, ob ich Minuten nur oder fast eine Stunde weinend an Lucas’ Schreibtisch gesessen hatte. Mit einem Mal schabten Vogelkrallen über mir. In der Ferne, durch das offene Fenster, rauschte der Verkehr. Die Tränen hatten mich wie immer vollkommen erschöpft, meine Brust schmerzte, mein Herz schmerzte, und doch regte sich, als ich dort saß, an Lucas’ Schreibtisch, als ich versuchte, ruhig zu atmen, mich auf das Einatmen zu konzentrieren, auf das Ausatmen, als ich alles versuchte, was ich gelernt hatte, langsam, tief in mir, etwas anderes. Ein neues Gefühl.
Ich fühlte mich geborgen.
So geborgen, wie seit Langem nicht. Ich hatte das Gefühl, ich könnte hier, in diesem Haus, in London, bei Lucas, meinen Panzer vielleicht ein wenig lockern. Ein wenig freier atmen. Womöglich sogar bleiben, wenn auch nur für eine kleine Weile.
»Du kannst selbstverständlich bleiben, so lang du willst, Ella«, hatte Lucas gesagt. »Ob du den Job annimmst oder nicht.«
Wenn ich Ja sagte, würde der Job viel Denkzeit in Anspruch nehmen. Ich wäre beschäftigt. Und nichts brauchte ich mehr, zu jeder Minute des Tages, zu jeder Minute der Nacht. Eine Tätigkeit. Etwas, was mich daran hinderte, über Dinge nachzugrübeln, die ich nicht ertragen konnte.
Ich öffnete die Akten erneut, blätterte darin herum und kämpfte damit, zu einer Entscheidung zu gelangen. Falls ich den Job nicht annahm, was dann? Sollte ich trotzdem ein oder zwei Wochen in London bleiben? Und dann nach Australien zurückgehen? Ich malte mir die Rückkehr aus. Wie es wäre, wenn ich Mum und Walter in ihrem großen, neuen Heim im schicken South Yarra besuchen würde und mir Geschichten aus ihrem aufregenden Leben anhören müsste, die Fernsehshow, die Interviews, die permanente Aufmerksamkeit durch die Medien. Mum würde so tun, als würde sie wahnsinnig, dabei liebte sie den Trubel. Und dann würden sie von Jess erzählen. Dass es ihr gut ging, sie auf dem Weg war, selbst ein Star zu werden …
So etwas konnte ich mir nicht anhören.
Gab es eine Alternative zu Melbourne? Könnte ich wieder nach Canberra? Niemals. Nach Sydney? Nein. Dort war Aidan. Er hatte einen Job als Übersetzer beim Special Broadcasting Service bekommen, dem internationalen Fernsehsender. Das wusste ich von Charlie. Charlie hatte mir immer das Neuste von Aidan und Jess berichtet, bis ich ihn gebeten hatte, das zu unterlassen. Es hatte ihm nicht gefallen, obwohl ich mir alle Mühe gegeben hatte, ihm meine Gründe zu erklären. Ich konnte es nicht ertragen, wenn ich hören musste, was sie beide machten. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie wieder arbeiteten und ein normales Leben führten. Was bei Jess hieß, dass sie von Woche zu Woche berühmter wurde. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass es ihnen irgendwie gelungen war, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, es neu zu gestalten, sich neu zu erfinden. Ich verstand nicht, wie ihnen so etwas möglich war.
»Sprich doch mit ihnen«, hatte mich Charlie bei einem unserer vielen Telefonate gebeten. Anfangs hatte er, als er nach der Beerdigung wieder in den Staaten war, mich beinahe jeden Tag angerufen. Ohne seine Anrufe hätte ich es nicht durch diese Zeit geschafft, doch nicht immer hatte mir gefallen, was er mir zu sagen hatte. »Bitte, Ella. Sprich mit Jess, und wenn du ihr nicht gegenübertreten kannst, dann wenigstens am Telefon. Sie muss mit dir sprechen.«
»Ich kann nicht, Charlie. Tut mir leid, ich kann nicht.«
»Willst du sie noch mehr bestrafen? Glaubst du nicht, dass sie schon genug bestraft ist?«
Ich hatte keine Antwort gegeben. Charlie hatte geseufzt. Nach einer kleinen Pause hatte er einen neuen Versuch gestartet.
»Dann rede wenigstens mit Aidan. Du kannst ihn doch nicht so
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