Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
Aidan bei uns, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ihn all das, was geschehen ist, ganz zu schweigen von dem, was seither zwischen Dir und ihm geschehen ist, vernichtet.
Mein im Redigieren so geübtes Auge wollte gleich das Wort vernichtet unterstreichen oder löschen. Ich schrieb schon im Geiste einen Kommentar daneben. Zu dramatisch? Und die Formulierung: ich übertreibe nicht … Meine Mutter liebt die Übertreibung. Das gehört zu ihrer Persönlichkeit, zu ihrer Exzentrik, aber das macht den Umgang mit ihr manchmal auch so schwer. Kein Wunder, dass Jess so theatralisch ist und immer nach Aufmerksamkeit sucht – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Lucas sagt immer mit einer, wie ich finde, gewissen Erleichterung, dass ich mehr Fox-Gene in mir tragen und ihn mehr an meinen Vater erinnern würde. Ich liebte – ich liebe – meine Mutter. Aber ich habe begriffen, dass man Menschen, die man liebt, nicht immer mag.
An der Stelle hatte ich ihren Brief beiseitegelegt. Doch ich hatte lang darüber nachgedacht. Was es hieß, Mutter zu sein, Tochter zu sein. Ich wollte ihr nicht noch größeren Kummer bereiten. Und darum hielt ich, auch wenn es mir schwerfiel, zu ihr und Walter Kontakt. Allerdings häufiger per E-Mail als per Telefon. Mum wären natürlich lange Telefongespräche lieber gewesen, doch ein wenig Abstand brauchte ich. Dafür schrieb sie mir ausführliche E-Mails über ihr neues Heim und ihr Leben und verlinkte zu allen MerryMakers -Folgen.
Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, sehe ich mir eine Folge an. Mum ist toll vor der Kamera, ungekünstelt und witzig. Die Talentsucher hatten einen Rohdiamanten entdeckt und geschliffen, bis er funkelte. Mum kocht, und dabei lacht und flirtet sie mit der Kamera. Sie bringt die abgedroschensten Essenswitze, lacht noch häufiger als das Band, sie singt, wenn ihr nach Singen ist, und neckt sich außerdem mit Walter – der zwar am Set ist und zur Show gehört, doch stets im Off bleibt. Pro Folge kocht Mum drei Gerichte. Die meistens gelingen, aber nicht immer, was zur Komik des Ganzen beiträgt. »Ups!«, lacht sie dann. »Sieht aus, als gäbe es heute Abend wieder Fertigpizza, Walter! Ein Glück, dass ich noch andere Talente habe!« Noch mehr Gelächter vom Band. Die Folgen dauern eine halbe Stunde, doch das Ende sehe ich mir niemals an. In den letzten fünf Minuten hat Jess ihren Auftritt.
Dort oben unter dem Dach, unter einem Oberlicht, auf das der Londoner Regen fiel, untermalt vom Heulen der Sirenen und dem Gesang der Vögel, ging mir auf, dass die Beziehung zu meiner Familie – zumindest zu Mum, Walter und Charlie – nur noch virtuell war, aufrechterhalten durch E-Mails, Textnachrichten und das Internet. Und darum spielte es auch keine Rolle, ob ich in Australien oder London lebte. Zu Hause hatte ich keine Freunde mehr. Meine früheren Kollegen aus der Verlagsbranche hatten sich sehr um mich bemüht, schließlich aber einer nach dem anderen aufgegeben. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Und bei meinen neuen Jobs hatte ich gar keinen Anschluss gefunden. Aber ich hatte auch keinen gesucht.
Ich schloss die Akten der Studenten. Da erst sah ich die Nachricht auf dem obersten Ordner. Liebe E, bitte leg im Anschluss alles wieder in die Schublade. L.
Wieder erstaunte mich, dass Lucas doch so etwas wie einen Ordnungssinn besaß. In solchen Momenten sprach wohl der Akademiker aus ihm. Unter einer Oberfläche von Schmutz und Chaos lauerte ein scharfer Verstand, der historische Fakten erfassen, Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen und der Welt einen Sinn entnehmen konnte.
Vor der Dachschräge standen vier Aktenschränke, mit je vier Schubladen. Beim dritten Versuch fand ich die richtige. Lucas’ Ordnungssinn reichte also nur bedingt weit. Dennoch waren die Schubladen selbst sorgfältig nach Jahren sortiert. Ich legte die vier Akten ganz vorn ab. Ich hatte die Schublade bereits geschlossen, da drängte es mich, sie wieder zu öffnen und in die Vergangenheit zu wandern. 2011, 2010, 2009, 2008, 2007 …
2007. Das Jahr, in dem sich Aidan bei Lucas beworben hatte.
Nicht hinsehen.
Diesmal ignorierte ich die Stimme in meinem Kopf. Ich holte den Ordner aus dem Jahr 2007 aus der Schublade und setzte mich wieder an den Schreibtisch. Ich blätterte, stieß auf vertraute Namen, und dann lag sie vor mir. Die Akte von Aidan O’Hanlon.
Nicht.
Ich legte mir Ausreden zurecht. In der Akte stünde nichts, was ich nicht schon wusste. Ich
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