Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
konzentriert, hatte sich stundenlang Nachrichtensendungen angesehen, Radioaufnahmen und Interviews mit Soldaten, mit Menschen angehört, die Zeugen von Bombardierungen geworden waren, mit Familien, die in London und die in den ländlichen, weniger gefährdeten Gebieten gelebt hatten. Sein Zimmer, Schlafzimmer und Arbeitszimmer in einem, hatte bei unserer ersten Begegnung einem Kriegsmuseum geähnelt. Als ich noch nicht wusste, woran er arbeitete, hatte ich befürchtet, er wäre einer von den Männern, die am Wochenende Modelle von Kampfjets basteln. Als ich ihm, Monate später, von meiner Befürchtung erzählt hatte, hatte er laut gelacht.
Es hatte mich fasziniert, dass er sich für ein so britisches Thema entschieden hatte. Die Historie seiner Heimat war mir wohl vertraut. Ich hatte einmal ein Buch über die irisch-australische Geschichte betreut. Der Autor war glühender Republikaner gewesen und hatte mich bei unseren vielen Treffen von seiner Denkweise überzeugen wollen. Ich hatte mich in eine Expertin für den Nordirlandkonflikt verwandeln müssen, um mich ihm gegenüber zu behaupten und gegen die sehr einseitige Perspektive seines Buchs anzuarbeiten.
»Du siehst Schritt eins auf dem Weg, den Feind zu bezwingen«, hatte Aidan auf meine Frage hin gesagt. »Lern alles über ihn. Dann infiltriere ihn. Ich befinde mich mittlerweile in der Phase der Infiltration.«
Ich war mir nicht sicher gewesen, wie ernst er das meinte. Vor allem, nachdem ich seinen Vater kennengelernt hatte und politisch schwer ins Fettnäpfchen getreten war. Mein erster Besuch bei Aidans Familie war auch mein erster Besuch in Irland gewesen. Es hätte nicht schlechter laufen können, denn ich hatte gleich zu Beginn den schweren Fehler begangen zu fragen …
Klong.
Das war die Haustür. Der Fuchs-Türklopfer klapperte jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wurde. Nun würde ich einen der Studenten kennenlernen, aber welchen? Ich schlich die Treppe hinunter, lauschte und entspannte mich. Es war Lucas. Ich erkannte ihn an seinem Schritt. Lucas war von seinem Verdauungsspaziergang durch den Hyde Park und die Kensington Gardens zurückgekehrt. Von seiner Denkzeit, wie er mir vor Jahren einmal gesagt hatte. Er ging eine Stunde lang spazieren, dachte über seine Arbeit nach und eilte, wenn er nach Hause kam, in den Gegensalon, um sich alles zu notieren. Dann machte er sich eine große Kanne Kaffee, nahm sich eine Handvoll Kekse und verschwand wieder in seinem Salon, wo er den Rest des Tages schreibend verbrachte.
Als er zwanzig Minuten später in der Küche erschien, standen Kaffee und Kekse schon bereit.
»Ella! Ich hätte fast vergessen, dass du hier bist.«
Ich lächelte. »Nein, hättest du nicht.«
»Und?«
Wir wussten beide, was er meinte. Akzeptierte ich den Job?
»Ja, sehr gern«, sagte ich.
Kapitel 8
Von: Charlie Baum
An: Verborgene Empfänger
Betreff: Es war eine unruhige Woche in Boston
Hier der wöchentliche Bericht aus den Schützengräben der Familie Baum:
Sophie, nunmehr 11: Gala-Geburtstagsfeier endet in Tränen. Meinen. Wissen Kinder nicht, wie lange man braucht, um Lebensmittelfarbe aus dem Teppich zu bekommen?
Ed, 8: Heute Morgen fragt er Lucy und mich, ob er sich einen Bart wachsen lassen solle. Wir haben ihm geraten, damit noch zu warten.
Reilly, 6: Der Kampf geht in die nächste Runde. Nach wie vor kommt ihm nichts als Würstchen auf den Teller. Also der nächste Versuch, Vitamine in Reilly zu schmuggeln. Kekse mit Trockenfrüchten. Zugegeben, es sieht wie Vogelfutter aus, aber so was kann doch nur gesund sein, oder? Immerhin probiert Reilly einen kleinen Bissen und gibt mir dann den Keks zurück. Mir steht die Niederlage ins Gesicht geschrieben – und die Angst. Lucy muss jeden Moment nach Hause kommen und ich Kekse und Würstchen verstecken. Reilly lächelt mich freundlich, aber auch mitleidig an. »Die sind gut, Dad, wirklich. Ich will die nur NIE WIEDER essen, okay?«
Tim, 4: Begleitet mich auf einer abendlichen Fahrt zum Supermarkt. Auf dem Rückweg, als wir den Berg hinunterfahren, liegt vor uns die Stadt, alles leuchtet, Häuser, Straßen, Schilder … Von hinten, aus dem Kindersitz, kommt ein Seufzen.
»Alles okay, Timmy?«, frage ich.
»Das ist so schön«, sagt er.
Er hatte recht. Es war schön.
Lucy, 36: Laviert noch immer mit Arbeit, Überstunden und Weiterbildung herum. Wie immer müde, aber glücklich. Hoffe ich.
Charlie, 36: Aktuelles Gewicht fünfundneunzig Kilo und ein paar Zerquetschte.
Weitere Kostenlose Bücher