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Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica McInerney
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hatte doch gerade gesehen, was Lucas in seinen Unterlagen aufbewahrte – die persönlichen Angaben, den akademischen Werdegang, ein Foto. Es lohnte vermutlich kaum die Lektüre. Ich kannte Aidans Werdegang, ich wusste, woher er stammte. Ich hatte im Haus der Familie übernachtet, kannte seine Eltern, seinen Bruder. Ich wusste, dass er sechs Sprachen beherrschte, drei Studienabschlüsse hatte …
    Sein Foto war an die erste Seite geheftet. Aidan, fünf Jahre zuvor, mit einunddreißig. Das Haar pechschwarz. Die Augen in diesem außergewöhnlichen Blaugrün, blau bei Sonnenlicht, grün im Winter. Auf dem Foto lächelte er nicht. Auf Fotos lächelte er nie, nicht einmal auf unserem Hochzeitsfoto. Er hatte eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Ich hatte sie geliebt, ihn machte sie verlegen. Sein älterer Bruder hatte ihn damit immer aufgezogen. Wenn Aidan etwas amüsierte, erschienen kleine Fältchen neben seinen Augen, und seine Augen strahlten, doch dieses Lächeln zeigte er nur, wenn er sein Visier herunterließ. Daher hielten ihn die meisten für einen ernsten, beherrschten Menschen, doch das Gegenteil war der Fall.
    Ich löste das Foto ab. Darunter befand sich Aidans Bewerbungsschreiben, das darlegte, warum er ein Jahr freie Unterkunft benötigte, welche Fähigkeiten er in das Nachhilfe-Team tragen könnte, woran er bei Lucas arbeiten wollte.
    Das alles war mir bekannt. Aidan stammte nicht aus reichem Haus. Er hatte ein Stipendium für das Trinity College in Dublin erhalten und während seines Sprachenstudiums in London nebenher arbeiten müssen, als Barmann, Putzkraft, Krankenwärter, Parkplatzwächter. Er war nicht wählerisch gewesen, solange ihm der Job das Studium ermöglichte. Ihm war nichts zuwider oder unangenehm gewesen. Er hatte von überallher Geschichten mitgebracht – von komischen Kollegen, Kunden und Patienten. Selbst nach vier Jahren Beziehung hatte er mich noch manches Mal mit einer Anekdote überrascht.
    Ich las immer weiter, obwohl mir die Stimme in meinem Kopf riet aufzuhören. Ich kam zu der Passage, in der Aidan zusammenfasste, warum er glaubte, aufgrund seiner Fähigkeiten und Kenntnisse zu Lucas und seiner kleinen Gemeinschaft zu passen.
    Sprache ist Welt, das gilt für uns alle. Gefühle, Gedanken, Hoffnungen und Sorgen, all das braucht Worte, damit es greifbar wird. Ich stamme zwar aus einem zweisprachigen Land, doch zwei Sprachen genügen mir bei Weitem nicht. Am liebsten würde ich im alten Babylon leben und alle Sprachen dieser Erde sprechen. Wenn ich in meiner Muttersprache ein Wort nicht finden würde, könnte ich innehalten und auf Italienisch, Französisch, Spanisch oder Arabisch zurückgreifen … Momentan spreche ich vier Sprachen fließend (Irisch, Englisch, Französisch und Italienisch) und lerne zwei weitere (Spanisch und Deutsch), doch auch das wird nicht genügen. Ich will noch so viel lernen. Ich will das Erlernte mit anderen teilen, andere inspirieren, so wie mich meine Lehrer inspiriert haben, andere bilden, so wie ich gebildet wurde, mit Leidenschaft, Begeisterung, Humor und Liebe für mein Fach. Ich möchte Brücken bauen, ich möchte buchstäblich übersetzen. Wo keine Worte sind, herrscht Schweigen. Wo aber Worte sind, da gibt es keine Grenzen. Da ist alles möglich.
    Erst nach einer Weile merkte ich, dass sich meine Augen wieder mit Tränen gefüllt hatten. Ich hatte beim Lesen Aidans Stimme gehört, seinen weichen Akzent, seine Leidenschaft für Worte. Sein Anschreiben war aufrichtig. Eine Sprache hatte Aidan nicht genügt. Er bestaunte fremdsprachige Wörter, so wie andere Männer Autos oder Uhren. Selbst wenn es bei seiner Arbeit in Canberra um langwierige diplomatische Gespräche oder Handelsdebatten gegangen war, als mit wenigen Worten der Anschein erweckt werden musste, es würde viel gesagt, hatte Aidan immer ein Juwel entdeckt. Ein Wort, das er zum ersten Mal gehört hatte, einen Slangausdruck, eine ungewöhnliche Redewendung. Er war nicht nur Dolmetscher und Übersetzer. Er war Wortsammler.
    Ich blätterte weiter. Es folgte eine Übersicht über seine akademische Laufbahn, die vielen Jahre des Studiums, verknappt auf eine Seite. In seiner Zeit bei Lucas hatte Aidan an einer Untersuchung der englischen Sprache zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gearbeitet. Er hatte herausfinden wollen, ob sich Sprache in Phasen großer Belastungen, während eines Kriegs oder wirtschaftlichen Niedergangs, veränderte. Er hatte sich auf England im Zweiten Weltkrieg

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