Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
weiter«, sagte Lucas. »Ich werde Henrietta um eine neue Einschätzung bitten.«
»Bei dem Mädchen kann auch Henrietta nicht viel ausrichten«, entgegnete Peggy. »Und es hilft nicht, dass der Vater davon besessen ist, dass sein Kind nach Cambridge geht. Wenn er mir noch einmal vorbetet, dass er da die beste Zeit seines Lebens hatte …«
»Erzählst du ihm, dass du in Oxford warst?«, warf Harry ein.
Alle lachten. Lucas machte sich wieder eine Notiz.
Nach dem Kaffee zogen sich alle in ihre Zimmer zurück. Das Angebot, mir beim Abräumen zu helfen, hatte ich dankend abgelehnt. Die untere Etage war wieder ruhig. Nur ich rumorte in der Küche herum. Ob Lucas bei seinen Umbauplänen auch an einen Geschirrspüler gedacht hatte?
Beim Abwasch versuchte ich mir vorzustellen, welcher der Studenten seine Klienten bestahl. Es gelang mir nicht. Sie erschienen mir alle so aufrichtig. So gewitzt, so klug. Natürlich hatten sie sich von ihrer besten Seite präsentiert, natürlich hatten sie keine Geheimnisse offenbart. Doch wer tat das schon? Das war reiner Selbstschutz. Das galt auch für mich. Auch ich hatte den anderen etwas vorgemacht. Gelächelt, Fragen gestellt, sogar gelacht. So nahe war ich einem Gefühl von Normalität, einem normalen menschlichen Umgang in den vergangenen zwanzig Monaten nicht gekommen.
Was, wenn ich meine Geschichte erzählt hätte? Was wäre aus dem entspannten Abend geworden? Es hätte alles verändert. Auch die Art und Weise, wie die Studenten mir künftig gegenübergetreten wären. Das wusste ich aus Erfahrung. Das war einer der vielen Gründe, warum ich mich zurückgezogen hatte. Weil niemand wusste, wie er mit jemandem wie mir, mit so einer Geschichte umgehen sollte. Es war den Leuten unangenehm. Peinlich. Das verstand ich. Früher hatte ich auch nicht gewusst, was ich zu Menschen in meiner Situation sagen sollte.
Da fiel mir mein Besuch bei der Selbsthilfegruppe in Melbourne ein. Ich hatte in der Lokalzeitung von dem Angebot gelesen. Eine Einzeltherapie hatte nicht geholfen. Vielleicht war eine Gruppe ja das Richtige. Die Treffen fanden in der örtlichen Bibliothek von St Kilda statt. Als ich in den Raum gekommen war, hatte ich gedacht, ich hätte mich geirrt, ich wäre in einem Bücherclub oder einem Kurs in Musiktheorie gelandet. Alle hatten so normal ausgesehen. Ich hatte eine sehr schlechte Zeit gehabt. Es war mir schon schwergefallen, an jenem Abend das Haus zu verlassen, ganz zu schweigen davon, mich zu schminken.
Ich war auf der Schwelle stehen geblieben. »Entschuldigen Sie, ist das hier das …«
»Tränenzimmer?«, hatte ein alter Mann ergänzt. Alle hatten gelacht. Da wäre ich beinahe wieder gegangen.
»Kommen Sie rein«, hatte ein anderer gesagt. »Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
In der Runde erzählten alle abwechselnd ihre Geschichten. Einer nach dem anderen. Es war ein so schmerzerfüllter Raum. Ich hatte zwar kein Wort gesagt, aber bis zum Ende durchgehalten. In mir war schon alles wund. Es war mir unerträglich, dass so viele andere Menschen so viel Qual durchleiden mussten. Ich war nie wieder hingegangen.
Früher einmal war ich richtig gut drauf. Ich weiß, das klingt nach, hey, ich bin so abgedreht! Denn, wie Charlie einmal so richtig gesagt hat, wer von sich behauptet, cool zu sein, der ist nicht cool. Aber ich war ein wirklich glücklicher Mensch. Ich habe das Leben geliebt. Ich habe Aidan und meine Arbeit und unser gemeinsames Leben und unser Apartment geliebt – und vor allem unseren Felix. Unser Leben war natürlich nicht perfekt. Es war kein Märchen. Aidan und ich hatten uns gut verstanden, aber auch wir hatten Meinungsverschiedenheiten, wie jedes Paar, das zwei Berufe und die Betreuung eines Kleinkinds unter einen Hut bringen muss. Wir haben über Kleinigkeiten gestritten, wer tut mehr im Haushalt, wer ist mit dem Einkaufen dran, wer darf ausschlafen. Aber lange angedauert haben diese Streitigkeiten nie. Eine kleine Gewitterwolke an einem überwiegend blauen Himmel. Damals hatte ich geglaubt, die Welt wäre ein gerechter Ort. Ich hatte geglaubt, wenn ich immer freundlich und höflich wäre, anderen in einer Schlange den Vortritt lassen, beim Abbiegen blinken und die Regeln des modernen Lebens befolgen würde, würde mir nur Gutes widerfahren. Heute weiß ich, dass dem nicht so ist. Das Leben bietet weder Seil und Haken noch Schranken oder Regeln. Ich hatte einfach Glück gehabt. Und irgendwann hatte sich mein Glück erschöpft.
Im ersten Jahr nach
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