Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
holte sämtliche Fotos hervor und sah sie mir der Reihe nach an, bis sein Gesicht, sein schönes, lächelndes, verschmitztes Gesicht, wieder tief in mein Gedächtnis eingeschrieben war. Ein Bild prägte ich mir ganz besonders ein. Als ich das Foto gemacht hatte, war Felix dreizehn Monate alt, es war gleich früh am Morgen, er krabbelte schon aus seinem Bettchen, mit einem Bein über dem Gitter, und streckte mir die Hände entgegen. Es kann losgehen, der Tag fängt an, jetzt, aber rasch, na los! Dieses Foto sagte alles über ihn, über seine Lebenslust, seine Energie …
Auf der Beerdigung hatte der Priester von dieser Energie gesprochen. Und von unserem Kummer. Wenn Gott ein Kind zu sich holt, werden wir alle gezwungen, unser Leben neu zu überdenken … Ich hatte die Worte damals nicht gehört. Eines Abends, es war schon ziemlich spät, ich war schon nicht mehr in Canberra, hatte ich den Priester angerufen und gebeten, mir zu sagen, was er am Grab gesprochen hatte. Ich hatte mich vergewissern wollen, dass er keine vorgefertigte Rede gehalten hatte. Dass er nicht aus einem Repertoire an tröstlichen Worten geschöpft hatte, dass ihm Felix wichtig gewesen war.
Am Tag darauf hatte Mum mich angerufen. Der Priester hatte sie angerufen, aus Sorge um mein geistiges Wohlergehen.
Ich sagte ihr, was ich ihm gesagt hatte. Ich musste wissen, welche Worte er gesprochen hatte.
»Du hättest mich fragen können!«
»Ich musste es von ihm hören.«
»Ella, möchtest du eine Zeit lang zu uns kommen?«
»Nein.« Ich versuchte es etwas freundlicher. »Nein, aber danke.«
Am nächsten Tag erreichte mich eine E-Mail von Charlie. Er fragte, ob ich zu ihm kommen wolle. Ich stellte mir vor, wie es in Boston wäre, bei Charlie und Lucy und ihren vier fröhlichen, gesunden, lebenden, atmenden Kindern. Tim, der Jüngste, war nur ein Jahr älter, als Felix jetzt gewesen wäre.
Ich rief Charlie an. »Charlie, es tut mir leid. Ich weiß, du meinst es gut …«
»Aber du kannst nicht.« Eine lange Pause. »Verstehe.«
Ich hatte an Selbstmord gedacht. Mehrfach. Warum weitermachen? Ich hatte doch kein Leben mehr! Aber ich hatte es nicht über mich gebracht. Nicht um meinetwillen oder meiner Familie willen, sondern um Felix willen. Denn es wäre zu entsetzlich gewesen, wenn er mich brauchen, wenn er – wo immer er auch war, ob im Himmel oder irgendwo im Universum – nach mir suchen und mich nicht finden würde. Natürlich war das Unsinn. Natürlich kam er nicht zurück. Ich wusste, dass er tot war. Das Wissen saß wie ein Splitter in meinem Herzen, und es schmerzte unentwegt, Tag und Nacht. Aber solange ich lebte, konnte ich mich an sein Leben erinnern, und das war das Einzige, was mich damals davon abgehalten hat.
Und so blieb ich in Bewegung. Beschäftigte mich vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Zog von Stadt zu Stadt. Von Job zu Job. Wie hätte ich als Redakteurin arbeiten können? Wie hätte ich stundenlang, allein in einem stillen Zimmer sitzen, auf dem Papier oder dem Monitor sorgsam Zeile für Zeile durchsehen, Worte verschieben, Ausdrücke korrigieren, Fragen stellen, Fakten überprüfen können, da ich doch pausenlos in Gedanken den einen Nachmittag in einem Park in Canberra durchging und alles daran ändern wollte …
Die unguten Gefühle meldeten sich wieder, auch hier in London, Tausende Kilometer von Canberra entfernt. Ich musste das Haus verlassen. Sofort. Nach draußen, mich bewegen, mich beschäftigen. Schnell.
Ich machte den Computer aus. Zog meine Laufschuhe an. Ich ging die Treppe hinunter, auf die Straße, über die Bayswater Road in den Hyde Park. Schnell.
Das war ein Fehler. Ich kam an einer Gruppe von Kindern vorbei, wahrscheinlich aus einer nahe gelegenen Tagesstätte. Sie waren älter, als Felix jetzt gewesen wäre, doch das spielte keine Rolle. Ich hatte mir Felix in jedem Alter, das er nie erreichen würde, vorgestellt. Mich erinnerte jedes Kind an ihn.
Der Park war voller Kinder.
Ich ging weiter in die Kensington Gardens, vorbei an den Brunnen, Teichen und Statuen der italienischen Gärten, zu einem der baumbestandenen Wege.
Ablenken. Beobachten.
Am Himmel hingen schwere Wolken. Dahinter war, als matter Schein, die Sonne spürbar. Ich ging, ich atmete, ich ging und atmete. Mein Puls beruhigte sich. In der Ferne sah ich die Kuppel der Royal Albert Hall. Ich kam an einer Gruppe nicht mehr ganz so junger Jogger vorbei. Der letzte hatte ein sehr rotes Gesicht. Vor einer kleinen Baumgruppe machte
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