Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
obwohl ich gar nicht so empfand. Dann zögerte sie, und ich wusste, nun würde sie wieder Aidan oder Jess erwähnen.
»Ella, bitte, kannst du nicht …«
»Mum, es tut mir leid. Nein.«
Sie bedrängte mich noch einmal. Ich sagte wieder Nein. Da verlor sie die Geduld. »Und wenn Charlie der Babysitter gewesen wäre? Würdest du dich ihm gegenüber ebenso verhalten?«
»Wenn Charlie der Babysitter gewesen wäre, wäre das nicht passiert.«
Nun war es heraus, nun war es endlich ausgesprochen.
»Ella, wir sind eine Familie. Wir müssen …«
Zusammenhalten? Wieso? Ich hatte eine eigene Familie gehabt. Jetzt hatte ich nichts. Es gab keine Regel, die besagte, dass eine Familie ewig hielt. Mein Fall war der Beweis.
Ich wusste, sie bemühte sich, so wie Walter, der am nächsten Tag anrief und sich für Jess einsetzte. »Sie ist doch auch am Boden zerstört, Ella. Sie weint Tag und Nacht. Du musst mit ihr reden.« Aber den Gefallen konnte ich ihnen nicht erweisen. Ich konnte es ihr nicht erträglicher machen. Was sie getan hatte, hatte sie getan, und nun mussten wir alle mit den Folgen leben. Jess. Aidan. Ich. Ich konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Ich konnte den einen Moment in meinem Leben, den ich so dringend umgestalten wollte, nicht verändern.
Daraufhin erhielt ich einen Brief von Jess. Ich las ihn nur halb.
Ella, es tut mir so so so so so sehr leid. Ich kann vor lauter Schuldgefühlen nicht mehr schlafen, kann mir den Text für mein neues Stück nicht merken, mir die Schritte nicht einprägen. Ich denke die ganze Zeit daran …
Ihren Text. Ihre Schritte. Sie stand wieder auf der Bühne, und mir gelang es morgens kaum, mich anzuziehen.
In jener Nacht träumte ich, dass Jess, anstelle von Mum und Walter, im Restaurant erschienen war. Im Bühnenkostüm, geschminkt, die Locken hüpften. Sie war vergnügt, sie lachte. Sie war gekommen, um mir zu erzählen, dass sie ein Musical über Felix geschrieben hatte, die Hauptrolle spielen würde und ich unbedingt zur Premiere kommen und mir ansehen müsse, wie sie Felix’ Lebensgeschichte mit Gesang und Tanz vortrug. Im Traum hatte ich sie angelächelt und gesagt, das klingt wundervoll, ich kann es kaum erwarten. Und dann hatte ich mir ein Messer genommen und sie erstochen. Sie mitten ins Herz getroffen. Es war in Zeitlupe geschehen; sie war vor meinen Augen gestorben, so dramatisch wie in einem Stummfilm, den Mund verzerrt, die Augen vor Schock und Schmerz weit aufgerissen, dann war sie mir langsam und anmutig in einer Blutlache zu Füßen gesunken.
Ich wurde wach. Es war halb drei morgens. In den ersten Momenten zwischen Traum und Wirklichkeit war eine eigenartige, tröstliche Ruhe in mir. Jess war tot. Gut. Dann holte mich die Realität ein. Nein, nicht Jess war tot. Felix war tot. Dann kam mir der Traum wieder in den Sinn, und ich wurde noch verstörter. Mein Wunsch, Jess zu töten, ihr grässliche Schmerzen zuzufügen, war gefährlich und beklemmend. Ich musste solche Gedanken abwenden. Da wusste ich, dass ich Melbourne verlassen musste. Ich musste weit weg von meiner Familie. Ich musste vor dem Schmerz und der Wut davonlaufen. Ich stand auf, machte meinen Laptop an und öffnete eine Flasche Wein.
Ich rief Busfahrpläne auf. Die Webseiten von Arbeitsagenturen. Vermietungszentralen. Housesitterbörsen. Ich machte mir zahllose Notizen. Ich stieß auf offene Stellen für Kellnerinnen, Obstpflücker, Hilfskräfte auf Weingütern, überall im ganzen Land. Ich war wie im Rausch. Diese Art von Arbeit wird mir helfen, dachte ich, als ich meinen Wein trank. Und je mehr ich trank, umso gedämpfter wurde der Schmerz.
Ich trank die erste Flasche aus und öffnete eine zweite. Ich fühlte mich gut. Ich fühlte mich großartig. Alles kam wieder in Ordnung! Mein Geist war ruhig, friedlich, betäubt, der Schmerz hatte seine Stacheln eingezogen. Ich hatte sechs Gläser Wein geleert, so viel hatte ich seit Felix’ Tod, seit Jahren nicht getrunken. Ich erinnere mich nicht, wie ich ins Bett gekommen bin. Aber als ich um fünf Uhr wieder wach wurde, war mir flau und schwindelig. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Vermutlich war ich noch betrunken. Und da, in meinem dunklen Zimmer, in meinem Bett, gab es einen Moment – einen Moment nur, doch es war der längste Moment meines Lebens –, in dem ich mich nicht an Felix’ Gesicht erinnern konnte. Ich lag in meinem Bett, ich wollte an ihn denken und konnte mir kein Bild vor Augen rufen.
Ich geriet in Panik. Ich stand auf,
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