Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
den 1960er-Jahren hatte Jimi Hendrix mit seiner Freundin in dem Haus gelebt. Ein Raum des Museums war beiden Musikern gewidmet: An einer Seite befanden sich Fotos und Erinnerungsstücke an Hendrix, auf der anderen lagen, in einer Vitrine, Notenblätter und Erinnerungsstücke an Händel. Als ich aus dem Museum kam, schaute ich nach oben. Über mir hingen zwei blaue Gedenktafeln, für jeden Musiker eine. Ob Lucas das bekannt war? Das würde ihm gefallen.
Eine solche Unternehmung hatte ich gebraucht. Ich musste London neu entdecken. Das London, das ich kannte – die Kensington Gardens und der Hyde Park, die Restaurants in Queensway, die Pubs auf der Bayswater Road, die Sitzbänke am Marble Arch –, war zu belastet mit Erinnerung. Nicht an Felix. Das war das Tröstliche an dieser Stadt. Aber London war voller Erinnerung an Aidan. Wir waren uns in den letzten Wochen des Sommers begegnet, als es noch warm, als es bis zehn Uhr abends hell war. Wir waren ausgegangen, hatten lange Spaziergänge und ausgedehnte Picknicks gemacht und uns dabei mehr und mehr verliebt. Ich hätte die Phasen unseres Werbens anhand unserer Pubs, Restaurants, Parks und Kinos kartografieren können. An diese Orte konnte ich nicht zurückkehren. Ich musste mir neue erobern.
In einem Café nahe der Regent Street stieß ich zufällig auf eine Broschüre über geführte Stadtwanderungen, zu einem London abseits der Touristenpfade. Ich holte einen Stift aus der Tasche und markierte sechs der Führungen. Das sollte mich eine Zeit lang beschäftigen.
Gleich am nächsten Tag, im Anschluss an meine morgendliche Hausarbeit, machte ich die erste, zweistündige Tour mit. Sie führte durch das Nobelviertel Mayfair. Ich erfuhr Historisches und Anekdotisches über berühmte Persönlichkeiten, besuchte Kirchen und den Berkeley Square. Der Stadtführer zeigte uns das Connaught Hotel, Annabel’s Nightclub, Botschaften und ehemalige Wohnsitze von Autoren, Premierministern, Wissenschaftlern und Gelehrten. Am Grosvenor Square sonderte ich mich ab. Gegenüber der amerikanischen Botschaft war das Denkmal für die Opfer vom 11. September. Unter dem Giebel des schlichten hölzernen Säulenbaus stand geschrieben: Trauer ist der Preis der Liebe .
Ich ging durch den Hyde Park nach Hause. Als ich in Lucas’ Straße einbog, brach die Sonne durch die Wolken und ließ die Häuserreihe weiß erglühen. Als ich näher kam, merkte ich entsetzt, wie heruntergekommen sein Haus wirkte. Nicht nur im Vergleich zu den Häusern, die ich gerade in Mayfair gesehen hatte, sondern auch zu seiner Nachbarschaft. Sämtliche Häuser waren in einem satten Weiß gestrichen, nur Lucas’ hatte einen fahlen Cremeton. Sämtliche Türen waren in leuchtenden Farben lackiert. Auf seiner verblich das Blau, und der Fuchs-Türklopfer verzog sich auch mit jedem Tag ein wenig mehr. Die Straße wirkte wie eine Reihe makelloser, strahlend weißer Zähne, die durch einen faulen Zahn verdorben wurde. Nicht, dass ich es gewagt hätte, Lucas gegenüber so etwas zu äußern. Er liebte sein Haus. Und er hatte ja auch vor zu renovieren. Sobald er genügend Geld hatte. Solange die Diebstähle seine Pläne nicht gefährdeten …
Abends berichtete ich ihm von meinen Fortschritten. Wir hatten uns zwei Tage nicht gesehen. Dafür, dass das Haus voller Menschen war, gelang es uns allen erstaunlich gut, uns aus dem Weg zu gehen. Es gab Anzeichen dafür, dass die Studenten kamen und gingen – die Post war fort, in der Eingangshalle standen Schuhe –, und sehr starke dafür, dass sie sich durch das Essen hindurcharbeiteten, das ich ihnen in den Kühlschrank stellte – dreckiges Geschirr in der Spüle. Sie waren mit ihrem Lernpensum und dem Nachhilfeunterricht überaus beschäftigt. Lucas verbrachte viele Stunden in der British Library und recherchierte für sein jüngstes Paper. Als ich bei ihm anklopfte, saß er in einem Meer von Zetteln. Den angebotenen Drink lehnte ich erneut ab, setzte mich Lucas gegenüber vor den Kamin und berichtete.
»Die gute Nachricht ist, dass ich endlich mit allen gesprochen habe. Die schlechte, dass sie meiner Meinung nach alle ein Motiv haben. Geld.«
»Sie werden sehr gut honoriert, Ella. Ihr Stundenlohn liegt weiter über dem Durchschnitt, und sie haben freie Unterkunft.«
»Dann geht es vielleicht nicht um Geld.«
»Sondern?«
»Eine Art Protest?« Ich erzählte ihm, was sie mir über ihre Klienten berichtet hatten. Dass sich alle darin einig waren, die Kinder seien viel zu
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