Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
vorbei. Ich blieb so abrupt stehen, dass der nachfolgende Passant in mich hineinstolperte. Ich entschuldigte mich und trat zur Seite.
Einen Monat nach Felix’ Tod hatte mir Lucas eine Karte geschickt. Keine Beileidskarte mit Lilien, Landschaftsmotiv oder, schlimmer noch, mit Teddybären. Auf Lucas’ Karte waren Stoffballen von Liberty zu sehen, dicht an dicht, als wäre es ein leuchtender Gobelin. Das Foto und die Nachricht – Ich bin immer für Dich da, wenn Du mich brauchst, Ella – hatten mir mehr geholfen, als er ahnte. Ich trug die Karte immer bei mir, in meinem Notizbuch, das seinerseits stets in meiner Handtasche steckte. Ich hatte begonnen, Erinnerungen an Felix aufzuschreiben, lustige Begebenheiten, kleine Momente aus seinem Leben. Lucas’ Karte markierte die jeweils aktuelle Seite. Ich griff in meine Handtasche. Ich hatte schon so viele Seiten beschrieben, dass die Karte fast bis ans Ende des Notizbuchs vorgerückt war. Mit der Karte in der Hand stieß ich die schweren Holztüren zum Kaufhaus Liberty auf. Ich ging an den Blumen vorbei, durch die Accessoire- und Make-up-Abteilungen. Den altmodischen Aufzug benutzte ich nicht, ich nahm die breite hölzerne Treppe in den ersten, den zweiten und schließlich in den dritten Stock, hinauf in die Stoffabteilung.
Ich hatte geglaubt, das Bild auf Lucas’ Karte wäre schön. Die Wirklichkeit war viel schöner. An den Wänden stapelten sich die Stoffballen, zu ordentlichen Reihen arrangiert. Es war ein Wunderland aus Farbe. Ich sah Muster und Drucke, pastellige und leuchtende Töne. Ich berührte die Ballen, strich über den kühlen Stoff …
»Kann ich Ihnen helfen?«
Neben mir stand eine Verkäuferin. Perfekte Manieren, gestärktes Kleid.
»Danke sehr. Ich möchte mich nur umschauen.«
Sie nickte mir zu, ein flüchtiges Lächeln. Kunden wie mich war sie offenbar gewöhnt.
Ich blieb fast eine halbe Stunde. Ich konnte mich nicht sattsehen. Ich entdeckte die typischen Liberty-Blumenmuster, zart und feminin. Aber es gab auch Fächer mit neuen Designs, und alle waren sie wie ein Gemälde: winzige, sorgfältig geätzte Blumen, Farbwirbel, tiefe, satte Töne. Neben den Stoffen war die Knopfabteilung – Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Knöpfen – jeder ein kleines Juwel. Es gab so viele Farben, Formen und Muster: für schwere Mäntel, für Sommerkleider, für Kinderkleidung – Teddybären, Elefanten und Marienkäfer. Auch die weihnachtlichen Knöpfe waren noch im Angebot: Mistelzweige, kleine Päckchen, Weihnachtsmänner, Zuckerstangen, sogar ein kleiner Glasknopf in Form einer zarten Schneeflocke …
Eine Schneeflocke.
Ich nahm sie vorsichtig in die Hand. Der Knopf war nur aus Kunststoff, nicht aus Glas, für mich aber sah er wie ein Diamant aus. Lucas hatte Felix zu dessen erstem Weihnachtsfest einen Pullover mit Schneeflockenmuster geschenkt. Das Paket war am 23. Dezember angekommen; in Canberra hatten dreißig Grad geherrscht. Wir hatten den armen Felix so lange in den Pullover gesteckt, bis wir das Foto hatten – ich hatte Felix auf dem Arm gehalten, vor dem offenen Kühlschrank.
»Freeze!« , hatte Aidan gesagt und abgedrückt.
Auch dieses Foto hing an Lucas’ Wand.
Ich kaufte den Schneeflocken-Knopf. Die Verkäuferin griff nach einer Tüte, doch ich lehnte ab. Ich zahlte und schob den Knopf in meine Tasche. Ich ging noch einmal durch die Stoffabteilung, badete abermals in diesem Meer der Farben. So schöne Dinge zu betrachten war Balsam für Augen und Seele.
Als ich über die hölzerne Treppe ins Erdgeschoss ging, kam mir eine Frau aus der Selbsthilfegruppe in den Sinn. Ihr Mann war unvermutet gestorben. Sie hatte nie zuvor im Garten gearbeitet. Das war seine Aufgabe gewesen. Aber in den Monaten nach seinem Tod hatte sie wie besessen gepflanzt. Keine Blumen, keine Büsche. Gemüse. »Mir war nie bewusst, wie schön es aussieht«, hatte sie bei dem Treffen gesagt, »wenn alles perfekt aufgereiht ist, wenn die Knospen sprießen. Und erst die Farben! Rote Tomaten, grüne Bohnen, gelbe Kürbisse. Ich bekomme einfach nicht genug.« Nun verstand ich sie.
Von Liberty aus ging ich zum Händel-Haus. Ich blieb mehr als eine Stunde, durchstreifte jeden Raum, las den Text zu jedem Exponat und ließ mir von den ehrenamtlichen Führern viele Details zu den sechsunddreißig Jahren erzählen, die Händel zwischen 1723 und 1759 in London verbracht hatte. In diesem Haus hatte er den Messias komponiert. Und ich lernte etwas Überraschendes. In
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