Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
vorn an. Mit gehetzter Stimme. »Falls du dieses Haus einmal erbst, würdest du es dann so weiterführen wie bisher?«
Ich versuchte, meine Fassungslosigkeit zu überspielen. Es gelang mir nicht.
»Es tut mir leid, dass ich so direkt frage. Ich weiß, wie das klingen muss. Es ist nur, na ja, ich habe eine kleine Schwester. Sie ist noch auf der Highschool, aber sie würde so gern auf die Uni gehen – und das könnte sie auch, sie ist viel klüger als ich – und nach ihrem Abschluss weiterstudieren, und vielleicht könnte sie dann auch hier wohnen, wenn, du weißt schon …« Sie verstummte allmählich.
Ich gab ihr eine wahrheitsgemäße Antwort. »Es tut mir leid, Peggy. Ich weiß nicht, welche Pläne Lucas hat.« Die Ofenuhr klingelte noch immer. »Ich muss wieder in die Küche.«
»Ella, es tut mir leid. Wegen …« Sie brach ab. Ich hatte keine Namen genannt. Und Peggy wollte Mitgefühl äußern.
»Mein Mann heißt Aidan. Unser Baby hieß Felix.«
»Es tut mir leid, Ella. Wegen Aidan und Felix.«
»Danke, Peggy.«
Als Erstes holte ich die Kekse aus dem Ofen. Mir war übel. Ich hätte Peggy nichts von Felix und Aidan erzählen dürfen. Mir wäre auch lieber gewesen, wenn sie mich nicht gefragt hätte, welche Pläne Lucas mit dem Haus verfolgte. Erst Mark, nun sie. War Peggy etwa diejenige, der es nur um Geld ging? War sie womöglich der Dieb? Ich musste mich ablenken. Mir war jeder Vorwand recht. Und so räumte ich den Kühlschrank aus.
Ich hätte mich nicht so aufregen dürfen. Ich hatte die Frage schließlich nicht zum ersten Mal gehört. Selbst Charlie hatte das Thema einmal angeschnitten, als Lucas vor Jahren in seinem üblichen Bücherpaket ein Foto mitgeschickt hatte, auf dem er vor seinem Haus posierte und stolz auf die frisch lackierte Eingangstür wies. Die Farbe war seither bestimmt nicht mehr erneuert worden.
Charlie hatte sich das Foto gründlich angesehen. »Das ist mal ein Haus«, hatte er gesagt.
»Es ist unglaublich«, hatte ich bestätigt. Dabei hatte ich Charlie schon so oft geschildert, was ich als Siebenjährige in Lucas’ Haus gesehen hatte: die vielen Zimmer, die Bücher, die Füchse. »Aber erst der Dachboden! Der Blick von da geht meilenweit.«
»Und wer erbt das alles mal? Du oder die Fuchs-Hilfe?«
»Charlie!«
»Ich bin nicht raffgierig. Ich bin nur neugierig. Du bist seine einzige lebende Verwandte, oder? Falls er uns nicht ein paar Söhne oder Töchter verheimlicht, die eines Tages auf ihre Rechte pochen und das Haus verlangen.«
In dem Moment war Jess ins Zimmer gekommen. Sie war sieben oder acht Jahre alt gewesen. »Wer verheimlicht Söhne oder Töchter? Was für ein Haus?«
Ich hatte ihr keine Antwort gegeben. In meinen Augen war es eine Unart, dass sie immer alles über jeden wissen wollte. Charlie jedoch war schon immer der Meinung gewesen, dass Wissensdrang zu fördern sei.
»Wir sprechen über Ellas Onkel Lucas und sein Haus in London, Jess«, hatte er erwidert. »Und die Frage, ob er es ihr nach seinem Tod vermachen wird.«
»Ist er denn krank? Ein ganzes Haus? Nur für sie? Aber das ist nicht fair! Was ist mit dir und mir?«
»Es ist fair, Jess«, hatte Charlie gesagt. »Lucas ist Ellas Onkel und nicht unserer. Mit uns ist er nicht verwandt.«
»Muss er aber! Wenn er Ellas Onkel ist und ich ihre Schwester bin, muss er doch auch mein Onkel sein!«
Ich weiß nicht mehr, was Charlie darauf entgegnet hatte. Vermutlich hatte er Stift und Papier geholt, einen Stammbaum gezeichnet und ihr erklärt, dass wir von verschiedenen Zweigen abstammten. Eine der vielen Komplikationen, die das Leben in einer Patchwork-Familie mit sich brachte. Jess war damals noch sehr jung, aber ich hatte mich bereits daran gewöhnt. Ich hatte das Gefühl, dass es im Laufe meiner Schulzeit ständig geheißen hatte: »Mal uns deinen Stammbaum«. Ich war immer als Letzte fertig geworden, weil ich so viele Zweige malen musste, einen für Charlie, für mich, Mum, Dad, Walter … Beim Blick auf diese Zeichnungen ging mir immer auf, dass alle Zweige zu Jess führten. Es war, als ob all diese vielen Menschen nur aus einem Grund zusammengekommen wären: um dafür zu sorgen, dass es Jess gab.
»Magst du Jess eigentlich?«, hatte ich Charlie einige Abende später gefragt, als wir beide allein in der Küche waren und den Abwasch machten, während sie im Esszimmer Purzelbäume schlug oder an den Kronleuchtern baumelte oder was auch immer ihre neueste Marotte war. Mum und Walter aber hatten in
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