Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
Es war ein großartiges, ganz wunderbares Gefühl, es endlich herauszulassen, es endlich einmal zuzugeben. Ich hatte mich ein Leben lang mit einem schlechten Gewissen herumgeplagt, weil ich Jess nicht auf Anhieb geliebt hatte, weil sie mir auf die Nerven ging, weil ich nicht wie alle anderen auf sie reagierte, mit Entzücken und Bewunderung. Und, ja, es verletzte mich, dass Mum und Walter ihr so viel Aufmerksamkeit schenkten, und ich fühlte mich minderwertig, weil ich nicht, so wie sie, singen und tanzen und andere betören konnte. Ich las stundenlang und kochte gern, aber das waren langweilige Hobbys verglichen mit dem Feuerwerk, das Jess entzünden konnte. Außerdem war sie mit ihren Grübchen und Löckchen und ihrer Anmut viel schöner als ich. Die reinste Shirley Temple. Neben ihr kam ich mir wie Pippi Langstrumpf vor. Aber das hatte ich noch niemals laut geäußert, nicht einmal meinen Schul- oder Studienfreunden gegenüber. Ich hatte immer gehofft, wenn ich nur eifrig nickte, sobald es hieß: »Ist sie nicht hinreißend?«, würde ich es eines Tages selbst glauben.
Aber nun nicht mehr. In diesem Moment, in diesem Pub, sprach ich die Wahrheit aus. »Ich bin krankhaft eifersüchtig.«
Ein Lächeln von Aidan.
»Sie hat mein Leben ruiniert.«
Eine hochgezogene Augenbraue.
»Sie ist eine verwöhnte, verzogene, verhätschelte …«
»Halt dich nicht zurück, okay?«
»Empörende, aufmerksamkeitssüchtige, egozentrische …« Ich musste lachen. »Es ist mir ernst.«
»Das sehe ich. Also, mit einem Wort – du hasst sie.«
Ich nickte begeistert. »Ja, allerdings, ich hasse sie.«
»Verabscheust sie?«
»Ganz und gar.«
»Großartig. Wollen wir sie umbringen?«
»Tolle Idee. Danke. Würdest du das für mich tun?«
»Aber sicher. Soll ich mich bei der Gelegenheit auch um Charlie kümmern? Zwei zum Preis von einem?«
»Nein, Charlie nicht. Ich liebe Charlie. Aber Jess, ja. Habe ich da eben Preis gehört? Muss ich etwa zahlen?«
»Das ist Mord. Natürlich kostet dich das was. Glaubst du, ich bin die Caritas? Ich bin ein mittelloser Student, wie du dich erinnern wirst. Also, willst du, dass sie leidet, oder soll es schnell gehen?«
Ich tat so, als würde ich darüber nachdenken. »Schnell, aber trotzdem schmerzhaft wäre gut.«
»Ein Giftpfeil?«
»Perfekt. Danke. Und wie mache ich das gut?«
»Mit einem Kuss«, sagte er. Einfach so.
Wieder durchfuhr mich diese seltsame Unruhe, von Kopf bis Fuß. Dieser Taumel kam nicht vom Alkohol.
»Vor oder nach dem Mord?«, fragte ich.
»Wo lebt sie denn?«
»In Australien. Melbourne.«
»Und wir sind in London. Eine geografische Erschwernis. Dann erledigen wir das mit dem Kuss hier und jetzt und mit dem Mord, wenn ich das nächste Mal in Australien bin.«
Und so haben wir uns geküsst. Quer über den Tisch hinweg. Aus Sekunden wurde eine Minute. Die aufwühlendste Minute meines Lebens. Bis jemand rief: »Habt ihr kein Zuhause?«
Aidan lachte, ich spürte das Lachen an meinen Lippen. Wenn es möglich gewesen wäre, ich hätte ihn für den Rest meines Lebens küssen wollen. Doch wir lösten uns voneinander, ich blinzelte, er auch, als ob wir aus einer Trance erwachen würden. Als wir Monate später darüber sprachen, wann und wie wir es gewusst hatten, wann uns zum ersten Mal aufgegangen war, dass es ernst würde, hatten wir beide gesagt, bei diesem Kuss.
Wir bestellten noch ein Bier. Dann klingelte sein Handy. Es war Lucas. Nicht, um uns hinterherzutelefonieren. Ein »reichlich aufgelöster« Klient hatte angerufen, sein Sohn hätte Prüfungspanik. Ob die Möglichkeit bestünde, dass Aidan …
»Ich habe drei Bier getrunken, Lucas. Deine Nichte hat mich auf Abwege geführt.«
Ich streckte vier Finger in die Höhe.
»Tut mir leid, Lucas. Vier. Aber stehen kann ich noch, falls das hilft.« Macht es dir was aus? , fragte er mich lautlos.
Natürlich nicht , gab ich ebenso zurück. Geh schon.
Ich war sogar dankbar, dass ich eine Atempause bekam und über das, was hier geschah, nachdenken konnte.
Aidan sagte zu Lucas, er sei unterwegs, und legte auf. Er schaltete umgehend in den Arbeitsmodus. Mit dem Flirten war es vorbei. Er war wieder ernst. »Es tut mir leid, Ella. Ich will nicht gehen.«
»Und ich will nicht, dass du gehst.«
»Dann ist das nur die Pause? Morgen zweiter Akt? Gleicher Ort? Acht Uhr?«
»Gleicher Ort, acht Uhr.«
Er lächelte. Dann beugte er sich zu mir, berührte sanft meine Wange und ging. Er küsste mich nicht. Sonst hätte ich
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