Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
ist schrecklich und wunderbar zugleich. Schrecklich, weil sie sich vor Arthurs Familie fürchten muss, solange sie den Stab bei sich hat. Wunderbar, weil er ihr die Flucht von diesem schrecklichen Ort und ein neues Leben ermöglichen kann, wenn sie geschickt und behutsam vorgeht.
Ja, sie muss geschickt und behutsam sein.
Sie steht daneben und sieht Matthew bei der Arbeit zu. Seine körperliche Nähe fasziniert sie. Seine rauhen Hände am Spaten, wie sich seine Schultern heben und senken, die starken, ruhigen Beine. Noch vor wenigen Stunden waren diese Hände und Schultern und Beine sanft, aber unablässig damit beschäftigt, ihr körperlichen Genuss zu bereiten. Sie kann es noch immer kaum glauben. Früher schien ihr Körper nur geliehen; er gehörte ihrem Mann, ihrem Kind, ihrer Familie. Doch Matthew hat ihr bewiesen, dass sie in ihren Gliedmaßen und Organen und ihrer Haut zu Hause ist. Das Begehren erwacht aufs Neue in ihr.
Er blickt hoch, als würde er spüren, dass sie an ihn denkt. Er lächelt, und ihr Herz macht einen Sprung.
»Was denkst du, hübscher Vogel?«
Sie lächelt, antwortet aber nicht. Durch die Bäume schiebt sich der erste Finger der orangegoldenen Dämmerung. Der Gesang der Vögel wird lauter. Er gräbt weiter. Dann endlich ertönt ein dumpfer Laut, als sein Spaten auf die Kiste trifft.
Matthew wirft den Spaten beiseite und fällt auf die Knie. Gräbt mit den Händen in der Erde. Isabella kniet sich neben ihn und wischt den Schmutz vom Deckel. Matthew hat ein Ende der Kiste ergriffen und zieht sie keuchend nach oben.
Dann hebt er sie hoch und sagt: »Komm mit, Isabella.«
Sie kehren in den Leuchtturm zurück. Matthew trägt die Kiste die Treppe hinauf und stellt sie neben dem Werkzeugschrank auf den Boden. Am Tisch im Telegrafenraum könnte man besser arbeiten, doch Isabella weiß, dass er fürchtet, jemand könne wegen eines Telegramms hereinkommen und den Amtsstab entdecken.
Er öffnet die Kiste und tritt zurück.
Isabella kniet sich auf den Boden und streicht mit den Fingern über die Edelsteine. Acht Rubine, vier Saphire, vier Smaragde und ein Diamant. Siebzehn Edelsteine, jeder einzelne gehalten von einer handgefertigten Kralle.
»Ich brauche eine Zange«, sagt Isabella. »Die kleinste, die du hast.«
»Das findest du alles in diesem Schrank.« Er setzt sich zu ihr auf den Boden. »Tut mir leid, dass du hier arbeiten musst.«
»Ich möchte ebenso wenig wie du, dass wir entdeckt werden.«
»Allein der Diamant dürfte genug einbringen, um die Fahrkarte nach New York zu bezahlen.«
Zwei Fahrkarten. Sie braucht zwei. »Es ist eine lange Reise. Ich möchte bequem untergebracht sein, in einer Kabine. Außerdem brauche ich Kleidung, Schuhe und Geld für drüben. Ich habe Victoria noch nicht einmal gefunden. Irgendwo muss ich wohnen. Nein, ich werde sie alle verkaufen.«
»Aber es ist doch sicher verdächtig, wenn du plötzlich mit diesen Edelsteinen auftauchst. Ich weiß nicht, wie das gehen soll, Isabella.«
Der Plan nimmt nur langsam Gestalt an, und sie spürt Matthews Bedenken wie einen dumpfen Schmerz im Kopf. Es stimmt, dass sie, Mary Harrow, zuletzt noch ein einfaches Kindermädchen, viel Aufmerksamkeit erregen würde, wenn sie plötzlich Edelsteine zum Kauf anböte. Vor allem diese siebzehn Edelsteine, die genau zu denen des verschwundenen Amtsstabs passen. Sie muss sie irgendwie tarnen und kann sie auf keinen Fall hier in Lighthouse Bay verkaufen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass es verdächtig wäre, gibt es hier auch nicht genügend Leute, die das nötige Geld hätten.
»Lass mich überlegen«, sagt sie, will sich nicht entmutigen lassen.
Matthew geht seinen morgendlichen Pflichten nach. Isabella findet eine Zange mit kleinen Spitzen und löst vorsichtig den ersten Saphir aus der Fassung. Gold ist ein weiches Material, aber ihre Hände schmerzen trotzdem. Sie spürt Matthews Gegenwart, während der Morgen heller wird. Sie ist müde, so müde. Sie hat kaum geschlafen, leidet unter der Trennung von Xavier und ist schockiert über die Tatsache, dass sie sich von Matthew hat lieben lassen. Schließlich aber hält sie alle Saphire in der Hand.
Matthew hockt sich neben sie. »Läuft es gut?«
»Ich werde Schmuckstücke daraus machen. Das habe ich schon immer gern getan und durch die Ehe mit einem Winterbourne viel dazugelernt. Kein Mann würde einen Saphir kaufen, wohl aber eine Saphirbrosche für seine Frau.«
»Aber wo willst du sie verkaufen?«
»Das muss ich mir
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