Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
eine Diebin. Die Köchin wird sie nicht gerade herzlich begrüßen, falls sie sie entdeckt, doch sie wird einfach sagen: »Wie könnt ihr mir eine kleine Erinnerung an Daniel verwehren?«
Xavier. Sie meint Xavier, nicht Daniel. Xavier ist der lebende Junge. Daniel ist ihr Sohn, der keinen dritten Geburtstag feiern wird. Isabella bleibt abrupt stehen, ihr Herz hämmert. Die kurze Verwechslung der Namen hat sie beunruhigt, hat ihrem Herzen einen grellen, scharfen Schock versetzt. Es ist, als erwachte sie aus einem Traum, in dem sich ein anderer Traum verbirgt. Sie hat sich für rational gehalten, doch nun denkt sie vielleicht zum ersten Mal seit Monaten wirklich klar. Xavier ist nicht Daniel. Aber das hat sie gewusst. Oder nicht?
Sie schaut sich um, als sähe sie die Landschaft zum ersten Mal. Sie wird nicht zum Haus der Fullbrights gehen und sich heimlich ins Kinderzimmer schleichen. So etwas tun nur Verrückte. Aber ist es auch verrückt, davon zu träumen, den Jungen mit nach Amerika zu nehmen? Ihre Phantasien sind so weit gediehen, dass sie nicht weiß, ob es noch ein Zurück gibt.
Isabella macht kehrt und geht wieder zum Leuchtturm. Ihr bleibt ein Monat Zeit, um sich zu entscheiden. Sie liebt Xavier, und diese Liebe ist wirklich, und sie muss etwas tun. Sie kann einen kleinen Jungen, den sie liebt, nicht in einem Haus voller Grausamkeit und Zorn und erstickender Gleichgültigkeit lassen. Gewiss wird die Liebe einen Weg finden.
Dreiundzwanzig
I sabella entdeckt die Romantik harter Arbeit. Sie empfindet eine köstliche Freude, wenn sie schon vor Anbruch der Dämmerung fleißig ist. Das Licht der Lampe malt einen Teich auf ihre Hände und die Dielenbretter, auf denen sie ihr Material ausbreitet und mit geschickten Fingern zusammensetzt. Sie fügt es zusammen und nimmt es wieder auseinander und fügt es erneut zusammen, während Matthew einen weiten Bogen um sie macht, wenn er im Leuchtturm hinauf- und hinuntersteigt. Sie wird süchtig nach Arbeit. Sie vergisst dabei die unklugen Versprechen, die sie sich selbst gegeben hat; sie vergisst, dass sie Matthew liebt und ihn in einem Monat verlassen muss. Es gibt nur die filigrane, detaillierte Arbeit, die frühmorgendliche Stille und das beruhigende Licht der Lampe.
Wochen vergehen. Ihre Finger werden geschickter darin, die silbernen Drähte, die die Edelsteine halten, zu wickeln, die gleichmäßigen Kreise, aus denen sie Ketten und Schließen formt. Sie treibt sich an, will alles rechtzeitig für den Ball fertig haben. An manchen Tagen, wenn ihre Finger schmerzen und ihr Kopf vor lauter Konzentration dröhnt, fragt sie sich entsetzt, ob Lady McAuliffe sie vergessen hat. Sie hat noch immer nichts von ihr gehört. Eines Morgens bei der Arbeit bringt Matthew ihr ein Telegramm, und ihr Herz macht einen Sprung, denn sie weiß, dass Berenice ihr nun endlich das Datum und den Ort für den Ball nennen wird. Aber es ist nicht von Berenice, sondern von Max Hardwick, dem Juwelier.
Habe alle Stücke verkauft. Bitte kommen Sie bald nach Brisbane, um 120 £ abzuholen.
Matthew, der das Telegramm übertragen und den Betrag gelesen hat, schaut sie ernst an.
»Du hast jetzt genug. Mehr als genug. Wirst du bald aufbrechen?«
Isabella sieht, dass er sich ein Ja und ein Nein zugleich wünscht.
»Ich habe so viel Arbeit hineingesteckt«, sagt sie und deutet auf das Durcheinander aus Edelsteinen und Silberdraht. »Ich werde es zu Ende bringen.«
»Du könntest die Sachen mit nach Amerika nehmen.«
»Berenice verlässt sich auf mich.«
Matthew nickt, verbirgt sein Lächeln und lässt sie allein. Sie liest das Telegramm noch einmal und träumt ein bisschen. Sie könnte mit dem Geld weitere Edelsteine kaufen. Muscheln sammeln, vielleicht einmal mit Gold statt mit Silber arbeiten. Sie würde gerne einen Anhänger machen: Für die Kette würde sie Tage brauchen, aber er würde wunderschön aussehen. Sie malt sich aus, welche Dinge sie erschaffen, welche Preise sie dafür verlangen könnte. Ihr Name – oder besser gesagt, Mary Harrows Name – würde weltbekannt. Sie könnte ihr Leben damit verbringen, Schmuck herzustellen, und andere Frauen beschäftigen. Sie könnte sich ein Haus wie Lady McAuliffe leisten, wunderschöne Kleider, Einladungen zum Tee. Isabella lässt sich eine Weile vom Fluss der Phantasie tragen. Sie ist es gewohnt, in ihrer Vorstellung zu leben, auch wenn diese sie manchmal zu Tode ängstigt.
Dann fügt sie der Phantasie ein neues Element hinzu: Matthew. Matthew
Weitere Kostenlose Bücher