Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
auf ihn musste sie alt wirken. Sie war früher seine Babysitterin gewesen; vermutlich betrachtete er sie als Mutterfigur, höchstens als ältere Schwester. Bei der Vorstellung zog sich alles in ihr zusammen. Sie erinnerte sich, wie er ihre Hände gehalten hatte. Seine Hände waren jung und gebräunt, an ihren wurde die Haut dünn, und die Adern schimmerten durch. Ganz zu schweigen von den Falten um ihre Augen. Und sie hatte sich nicht vor der Sonne geschützt wie Libby, daher war ihre Haut an Armen und Dekolleté fleckig geworden. Plötzlich kam sie sich vor wie eine Hexe, eine Hexe mittleren Alters. Die Vorstellung, einen jüngeren Mann zu lieben und sich ein gemeinsames Leben aufzubauen und Babys zu bekommen, war lächerlich, ein idiotischer Traum. Dafür war es viel zu spät.
An diesem Abend suchte sie bei Datemate nach Profilen von Männern, die so alt waren wie Damien: Alle wünschten sich Frauen zwischen zwanzig und dreißig, keine, die sich der vierzig näherten. Halbherzig schaute sie sich nach Männern in ihrem Alter oder älter um, doch keiner weckte ihr Interesse. So war es immer, und sie hatte lange Zeit geglaubt, sie werde einfach keinen Mann mehr finden, der ihr so gut gefiel wie Andy.
Doch jetzt, nach zwanzig Jahren, hatte sie vielleicht einen gefunden. Und es bedrückte sie, dass er in ihr nicht das sehen konnte, was sie in ihm sah.
In den folgenden Tagen arbeitete Libby lange und konzentriert. Sie gewöhnte sich daran, gelegentlich mit Emily zu telefonieren. Sie wagte sogar zu fragen, ob diese irgendetwas über den Schiffbruch der Aurora wusste. Emily war begeistert, dass Libby zum Wrack getaucht war, und versprach, alles Wissenswerte für sie zusammenzutragen.
Die Fotos, die aus Paris zurückkamen, waren ausgezeichnet. Nur drei mussten neu gemacht werden, und sie wartete auf eine E-Mail ihres Fotografen Roman Deleuze, der ihr die Bilder schicken wollte. In der Zwischenzeit überarbeitete sie weiter die Katalogseiten, verschob Bilder und Texte. Obwohl sie den Winterbourne-Katalog seit Jahren gestaltete, war es diesmal besonders aufregend. In diesem Jahr wollte Emily etwas anderes, Moderneres. Libby genoss jeden Augenblick. Sie wünschte sich, Mark könnte das Ergebnis sehen, und überlegte, was er wohl davon halten und ob er seine Meinung über Emily ändern würde, wenn er sähe, wozu sie fähig war.
Als sie das Motorrad des Postboten hörte, stand sie auf, reckte und streckte sich. Zeit für eine Pause und eine Tasse Tee. Sie ging nach draußen zum Briefkasten. Zum ersten Mal spürte sie, dass der Herbst in der Luft lag. Es schien kaum möglich: Lighthouse Bay war ein Ort, an dem immer die Sommersonne schien und die warme Luft vom Meer aufstieg. Sie atmete tief die ungewohnte Frische ein und holte einen großen Umschlag von Ashley-Harris Holdings aus dem Briefkasten.
Sie riss ihn auf. Seitenweise juristisches Kleingedrucktes, das mussten die Verträge über den Verkauf des Hauses sein. Vermutlich war es ein Standardvertrag, doch es hätte ebenso gut eine fremde Sprache sein können.
Sie brauchte eine juristische Beratung.
Libby seufzte. Sie wollte die Sache schnell hinter sich bringen, doch einige tausend Dollar für einen Rechtsanwalt waren vermutlich gut angelegt, wenn es um ein derart großes Immobiliengeschäft ging. Sie kehrte ins Haus zurück und suchte das örtliche Telefonbuch heraus. Dann rief sie in der erstbesten Kanzlei an und vereinbarte für den nächsten Montag einen Termin.
Sie kochte Tee und kehrte an den Schreibtisch zurück, wo sie Bossy von ihrem Bürostuhl vertreiben musste. Die Mail von Roman Deleuze mit den neuen Fotos war angekommen. Libby schickte rasch eine Antwort, in der sie sich bedankte und sagte, alles sei wunderbar.
Er antwortete sofort.
Mieses Wetter in Paris. Ich beneide Sie.
Sie scrollte hinunter und sah, dass er ein Foto angehängt hatte: Feierabendverkehr vor seinem Fenster. Regen. Leute mit gesenkten Köpfen unter Regenschirmen, Regenmantel an Regenmantel, dicht gedrängt. Es sah wirklich mies aus, und sie musste lachen. Aus einer Laune heraus griff sie nach ihrem Handy und ging nach draußen an den Strand: die unendliche Weite des Sandes, der tiefblaue Himmel, das türkisblaue Meer. Sie machte ein Foto, verband das Handy mit ihrem Computer und schickte es ihm.
So sieht es hier im Herbst aus.
Sie schrieben eine Weile hin und her, wobei sie ihn mit dem Stadtleben und dem schlechten Wetter aufzog und er sich darüber lustig machte, dass sie ihr
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