Das Haus am Nonnengraben
sie mich auch lieb gehabt. Kürtchen, hat mich der Arthur immer genannt, Kürtchen, mein Kürtchen.«
Hanna fand, dass der Name sehr gut zu der energischen kleinen Frau passte, und nannte sie von da an in Gedanken ebenfalls so. Kürtchen drehte den Kopf und sah lange zum Fenster hinaus. Die Sonne hinter dem Horizont tauchte den Himmel jetzt in ein tiefes Violett.
»Irgendwann sagte mal jemand zu den Kindern, ihre Mutter sei auf einer Missionsreise. Da haben sie sich wohl ein Traumbild gesponnen, und der Arthur wurde es nie mehr ganz los. Die Karla schon.« Sie schaute blicklos auf ihr Taschentuch und schien Hanna vergessen zu haben.
Die Dämmerung stieg langsam im Zimmer auf wie sanfter, grauer Staub. Die Konturen der Möbel wurden unscharf, und in den Ecken hockten die Schatten. Die Kuckucksuhr mit ihrem kleinen Ticktack hinderte Hanna daran, eine Frage zu stellen. Kürtchen langte neben sich zu einer Stehlampe, und das Licht ging mit einem runden »Klack« an, begleitet vom metallischen Schaben des Schalterkettchens. Kürtchen sah Hanna leicht fragend an.
»Des war aber wahrscheinlich net des, was Sie wissen wollten.«
»Doch, genau das. Bitte, erzählen Sie weiter. Sie wurden also die Ersatzmutter der Kinder. Wie war denn der Vater, Herr Rothammer? Er war Geschichtsprofessor, nicht wahr? Ich habe einiges von ihm gelesen.«
Kürtchen dachte kurz nach. »Tja«, sagte sie gedehnt, »wie soll man ihn beschreiben? Später war er zwar berühmt, aber im Grunde war er doch ein armer Kerl. Das Schlimme war, dass sich seine Geschichte wiederholt hat, nur umgekehrt. Weil, bei ihm war’s der Vater, der die Mutter weggeschickt hat.« Sie stockte, weil sie nicht recht wusste, wie sie den verworrenen Faden ihrer Erzählung entknoten sollte. »Ich weiß net so recht … Ich bin sonst net so geschwätzig.«
»Aber Sie erzählen wunderbar. Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören.« Hanna fiel plötzlich ein, dass sie vergessen hatte, ihr Tonband einzuschalten. Doch sie wollte das nicht ungefragt tun und fürchtete, eine entsprechende Bitte würde Kürtchens Erzählfluss stoppen. Um ihn wieder in Gang zu bringen, fragte sie: »Wann sind Sie denn zu den Rothammers gekommen?«
»Wollen Sie wirklich … Das ist fei eine lange Geschichte.« Sie klopfte nachdenklich die Fingerspitzen aneinander. »Ich bin 1930 zu den Rothammers gekommen, da war ich dreizehn. Ich hab von zu Haus fortmüssen. Wir waren zu zwölft, auf einem kleinen Bauernhof droben auf dem Jura. Drum haben sie mich als Küchenmädchen zu den Rothammers geschickt. Die nächsten Jahre waren die schönsten in meinem Leben. Das lag an der gnädigen Frau. Sandra Rothammer hieß sie, eine geborene Grunauer, Sie wissen schon.«
»Ach ja, die berühmte jüdische Familie aus Bamberg. Die von der Villa Grunauer. Hopfenhändler waren die, nicht wahr?«
»Ja, und Ärzte. Der Vater und der Großvater von der gnädigen Frau sind Ärzte gewesen. Die hatten viele reiche und vornehme Patienten, die Königin Amalie zum Beispiel. Aber sie haben dafür auch viele Arme umsonst behandelt, vor allem die vielen armen Juden, die damals vom Land in die Stadt gekommen sind. Na, jedenfalls, die gnädige Frau war ein wunderbarer Mensch. So jemandem bin ich nie wieder begegnet. Sie konnte so gut mit den Leuten umgehen. Wir hatten damals viel Personal, einen Gärtner, einen Chauffeur, eine Köchin und ein Küchenmädchen, eine Frau, die geputzt und gewaschen hat. Ich bin nach einiger Zeit so was wie das persönliche Dienstmädchen von der gnädigen Frau geworden. Sie hat viel mit mir geredet, und dann hat sie mir Sachen zu lesen gegeben, weil sie gemerkt hat, dass mir das Spaß macht. Romane und auch Bücher über fremde Länder und so was. Und dann hat sie sich mit mir da drüber unterhalten. Das war schön.« Kürtchens Stimme war wie ihre Sehnsucht jung geblieben.
Oha, dachte Hanna. Da hat sich aber jemand eine Heilige erschaffen. Aber sie wusste aus den »Erinnerungen von Dienstmädchen in jüdischen Haushalten«, die sie vor Kurzem gelesen hatte, von vielen ähnlichen Geschichten.
»Aber sie war zu jedem anders«, fuhr Kürtchen fort, »so wie es für jeden gut war. Oft war sie streng, ließ keine Faulheit oder Schlamperei durchgehen, aber meist war sie freundlich. Alle hatten großen Respekt vor ihr, aber sie haben sie auch gern gehabt. Ihre Söhne haben sie angebetet, hat mir die Köchin erzählt. Die beiden Älteren hab ich nimmer kennengelernt. Der Adalbert war im letzten Kriegsjahr
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