Das Haus am Nonnengraben
die Enge des Zimmers, dem seine Bewohnerin eine rührende Gemütlichkeit gegeben hatte.
Anneliese Kurt war eine kleine weißhaarige Frau mit rosiger, fast faltenfreier Haut. Alles an ihr und um sie wirkte frisch gewaschen und duftig sauber. Ihre Fingernägel waren manikürt und durchsichtig rosa lackiert, die Hände lagen entspannt in ihrem Schoß.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht aufstehe«, sagte sie, als Hanna ihr die Hand gab, »ich habe mir gestern den Fuß verstaucht, und der Arzt sagte, ich solle ihn nicht belasten. Setzen Sie sich doch.« Dann schwieg sie und sah Hanna erwartungsvoll an.
»Ich soll Ihnen herzliche Grüße von Frau Buchner bestellen. Ich bin ihre Nichte.«
»Oh, wie nett. Wie geht es ihr denn?«
»Danke, wirklich gut.«
»Des freut mich. Ist sie immer noch so sportlich?«
»Das kann man wohl sagen. Sie ist topfit, macht all ihre Besorgungen noch mit dem Fahrrad, spielt zweimal in der Woche Tennis, und das bekommt ihr prächtig.«
»Schön. Grüßen Sie sie bitte von mir. Und warum wollten Sie mich sprechen?«
»Ich soll einen Artikel über das Haus am Nonnengraben schreiben und wollte Sie deshalb um Informationen zur Familie Rothammer bitten. Tante Kunigunde sagte mir, dass Sie viele Jahre dort gearbeitet haben.«
»Ja, des stimmt. Von 1930 bis 1979, bis Elfi mich entlassen hat. Die Familie war mein Leben.« Es klang ebenso schlicht wie glaubwürdig. »Wie geht es Elfi Patzik denn?« Bis heute war diese Frau für Anneliese Kurt keine Rothammer geworden.
»Sie ist tot. Ich habe sie heute früh gefunden. Sie ist ermordet worden.«
»So?« Die alte Frau zeigte weder Erschrecken noch Trauer. »Weiß man, wer’s war?«
»Nein, noch nicht. Aber ich wüsste gern Näheres über das Opfer.« Dabei hätte sie es bewenden lassen können. Doch plötzlich und für sie selbst überraschend erzählte sie das zweite Mal an diesem Tag die ganze Geschichte, alles, was ihr am Vormittag im Haus am Nonnengraben begegnet war. Frau Kurt hörte mit gelassener Aufmerksamkeit zu, wie ein kleiner weißhaariger Rabe, und diesmal klang Tanjas Geschichte völlig selbstverständlich, so als wäre daran nichts Ungewöhnliches oder Tadelnswertes. »Wenn ich Tanja helfen will, muss ich so viele Hintergrundinformationen sammeln wie möglich. Könnten Sie mir erzählen, was Ihnen zu Elfi und zum Haus und zu den Rothammers einfällt? Bitte.«
»Hm, ja also, ich werd’s versuchen. Vielleicht gibt’s ja so was wie eine ausgleichende Gerechtigkeit«, sagte die kleine Frau ganz sachlich, und um ihren Mund bildeten sich Falten, die denen von Tante Kunigunde, als sie von Elfis Tod erfahren hatte, erstaunlich ähnlich sahen.
»Sie scheinen Frau Rothammer nicht besonders gemocht zu haben.«
»Nein, des kann man wirklich net behaupten. Sie hat alles kaputt gemacht, was mir wichtig war, die Familie, des Haus, den Arthur, alles. Und zum Schluss hat sie mich nausgeworfen. Ich hätt schon vorher gehen sollen, aber wer nimmt einen in dem Alter schon noch?« Erbittert stieß sie die Luft zwischen den zusammengepressten Lippen aus.
Hanna wartete, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Ich mocht sie von Anfang an net. Aber der Arthur war ja völlig vernarrt. Egal, was man gegen die Elfi gesagt hat, es hat ihn nur noch mehr davon überzeugt, dass er ihr helfen müsst. Vor allem weil sein Vater versucht hat, sie ihm auszureden. Der arme Herr Rothammer! Er hat’s so gut gemeint, aber er hat alles falsch gemacht. Dabei hat er völlig recht gehabt. Elfi war das genaue Abbild von Arthurs Mutter: schön, eingebildet und genauso dumm wie raffiniert. Die wusste einfach, wie man’s anstellen muss. Clever nennt man das heute wohl. Aber der Arthur wollt die Wahrheit net hören, über seine Frau net und über seine Mutter schon gar net. Er ist nie drüber weggekommen, dass sie davongelaufen ist mit einem anderen Mann. Elf Jahre war der arme Kerl damals alt, und ich konnt tun, was ich wollt, er hat geweint und geweint. Es wär besser gewesen, wenn sie gestorben wär. So hat sich niemand so recht drüber zu reden getraut, und alle haben die Kinder bemitleidet und geheimnisvoll getan, und keiner hat ihnen wirklich gesagt, was los war. Die Karla war ja erst neun damals. Da hat all mein Trösten und Liebhaben net viel geholfen.« Ihre Augen waren rot geworden, und sie zog ein gebügeltes und gestärktes, handumhäkeltes Taschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und wischte sich damit unter der Nase durch. »Dabei haben
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