Das Haus am Nonnengraben
unbequem. Entweder stellte sie den Laptop auf ihre Knie, dann waren die Schriftstücke auf dem Couchtisch zu weit von ihren Augen entfernt, oder sie nahm die Aktenordner auf den Schoß, dann musste sie die Tastatur über das sperrige Hindernis hinweg bedienen. Nach fünf Minuten tat ihr das Kreuz weh. Zudem waren die meisten Unterlagen wenig ergiebig. Interessant war nur die kurze handgeschriebene Lebensgeschichte eines Vorfahren von Herrn Dechant aus der Zeit vor dem Verkauf an die Rothammers, die die Geschichte des Hauses am Nonnengraben im 19. Jahrhundert lebendig machte.
»Ein Fleckchen im Garten hatten wir Kinder, das uns gehörte, da wurde gegraben, gebaut und gepanscht. Vom nahen Brunnen leiteten wir das Wasser herüber, bauten eine Mühle mit Mühlenrad, das sich drehte, und vieles andere. Über dem Kanal drüben, unserm Haus gegenüber, lag das frühere Klarisser Kloster, dann Kaserne des ersten Ulanenregiments. Es war immer herrlich anzusehen, wenn unsere Kaiserulanen mit Musik auszogen, geschmückt mit dem Helmbusch, dem roten Latz und den blau-weißen Fähnchen an den Lanzen. Wir konnten alles von unsern Fenstern aus gut beobachten. Wenn dann um neun Uhr abends von der Kaserne herüber der Zapfenstreich erscholl, dann war es auch für uns Kinder die höchste Zeit zum Schlafen.«
Hanna hätte sich gern etwas mehr in das Manuskript vertieft, nach Stellen gesucht, die etwas über die Bausubstanz des Hauses, vor allem über die Keller, aussagten, aber Herrn Dechants ständige Bemerkungen verdichteten sich zu einer Hintergrundmusik, die sie in ihrer Konzentration störte. Um ihr zu entgehen, stimmte Hanna schließlich der Einladung zum Kaffee zu. Das würde ihn wenigstens für eine Weile in die Küche verbannen.
Doch dann blieb er merkwürdig lange weg. Irgendwann beschloss Hanna, die das Manuskript durchgelesen hatte, mit ihren Exzerpten fertig und des düsteren Gebirgssees überdrüssig war, ihn zu suchen. Durch ein opulentes Speisezimmer kam sie schließlich in die Küche. Herr Dechant las konzentriert in einem Massenblatt mit dem Aufmacher »Die Leiche am Küchentisch«. Neben ihm lagen die Bamberger Tageszeitung und die Süddeutsche mit der gleichen Titelgeschichte. Er schaute auf, sah sie im Türrahmen stehen und sagte nervös: »Oh, Sie sind schon fertig. Ich dachte, Sie bräuchten noch länger.«
»Nein, es ist alles erledigt. Vielen Dank, dass ich die Unterlagen benutzen durfte. Ich schicke Ihnen dann den fertigen Text.«
Herr Dechant legte die Zeitungen hastig zusammen und stopfte sie in eine Schublade. »Setzen Sie sich doch. Der Kaffee ist fertig.«
Hätte sie die Einladung doch nur ausgeschlagen! Er hatte fünf Stück Torte besorgt – für Hanna ein absoluter Graus – und auf einer nicht besonders sauberen Platte angerichtet. An ihrer Kuchengabel waren Reste von Ei, von schmuddeligem Ei. Hanna legte die Gabel wieder neben ihren Teller und trank einen Schluck des heißen, säuerlichen Kaffees.
»An welcher Schule in Bamberg haben Sie denn unterrichtet?«, fragte sie ihren Gastgeber, damit er nicht wieder mit den Ausländern und der Todesstrafe anfing.
»Am Alten Gymnasium, Latein und Geschichte. Jetzt heißt das ja Kaiser-Heinrich-Gymnasium!« Herr Dechant sprach den Namen aus, als hätte er den Geruch von Abstieg und Untergang in der Nase. »Warum müssen die Menschen nur alles verändern? So unsinnig! Früher gab es ein Altes und ein Neues Gymnasium und dann noch die anderen, da wusste man gleich, woran man war.« Es war deutlich zu erkennen, dass er damit die gesellschaftliche Rangfolge meinte und auch, welche der Schulen sich an der Spitze dieser Rangfolge befunden hatte.
»Wie lange waren Sie denn am Alten Gymnasium?«
»Am alten Pennal? So haben wir das als Schüler genannt.« Offenbar fand er seine Bemerkung witzig. »Ich war nämlich schon als Schüler dort. Und dann als Lehrer zwanzig Jahre lang.«
Dann könnte er doch … »Haben Sie vielleicht zufällig die Rothammers gekannt? Die waren doch auch am Alten Gymnasium.«
Herr Dechant schien sich nicht zu wundern, wieso sie plötzlich auf die Rothammers zu sprechen kam.
»Ja. Es gab damals kaum jemanden unserer Generation in Bamberg, der die Rothammers nicht gekannt hätte. Arthur war zwei Jahre unter mir in der Klasse. Wir haben zusammen Tennis gespielt.«
»Wie war er denn so?«
»Arthur? Fair. Ein guter Sportsmann.«
»Und seine Schwester?«
»Aber Sie essen ja gar nichts. Ich habe die Sachen extra für Sie besorgt. Der
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