Das Haus am Nonnengraben
wesentlich mehr ärgerte und zunehmend beunruhigte, war ein anderes schweigsames Telefon. Bis zum Abend rief er sicher zehnmal bei Hanna an. Vergeblich. Wo war sie nur? Er hatte ihr doch gesagt, sie solle sich zur Verfügung halten. Außerdem rief er ja nicht so zum Spaß an; er war doch wirklich verpflichtet, ihr zu erzählen, dass sie sich um Tanja vorerst keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Aber nur der Anrufbeantworter lohnte sein edel selbstloses Bemühen.
Als er nach Hause ging, klingelte er an der Tür seiner Nachbarn. Die Karls hatten einen vierzehnjährigen Sohn, Leo, den Benno kannte, seit er dort eingezogen war. Sie verstanden sich gut und unterhielten sich oft. Leo war gerade nach Hause gekommen.
»Hi, Leo, sag mal, du bist doch mit Viktor Bolz befreundet, oder?«
»Nee, mit dem Arsch bin ich nicht befreundet. Wir sind nur zusammen in der MC.«
»Wieso ist der denn ein Arsch?«
»Ist er halt. Gibt an wie weiß ich was. Heut Nachmittag zum Beispiel, da ging’s um die Organisation von so ’nem Freizeitlager, und jeder hätte irgendeine Arbeit übernehmen müssen. Aber der feine Herr Bolz nicht, nee, der nicht. Sägen? So was hat er ja noch nie gemacht, dafür sind andere da. Sein Spitzname passt schon: Bobbo. Er ist halt ein Arsch.«
»Wie lang hat eure Besprechung denn gedauert?«
»Den ganzen Nachmittag. Ich komm grad davon. Warum?«
»Und Viktor war die ganze Zeit dabei?«
»Ja, war er.«
»Danke, du hast mir sehr geholfen.«
»Echt wahr? Ist was mit Bobbo?«
»Nein, es hat nichts mit Bobbo zu tun, sondern mit Ermittlungen, die ich momentan durchführe. Die sind noch geheim. Versprichst du mir, dass du niemandem ein Wort über unser Gespräch verrätst? Indianerehrenwort?«
»Indianerehrenwort? Was ist denn das? Aber das geht schon in Ordnung.«
Benno nickte Leo zum Abschied lächelnd zu. Wie viele heiße Nachmittage lang hatten er und seine Freunde sich im ewigen Kampf zwischen Indianern und Cowboys ausgetobt, den Leo offenbar nicht mehr kannte. Sicher hatte er neue Helden, von denen wiederum Benno nichts wusste. Möglicherweise war das eine Bildungslücke, über die er sich Sorgen machen musste.
Dennoch pfiff er vergnügt, als er seine Wohnung betrat. Bolzens Verschwinden aus der Sitzung am Nachmittag hatte also nichts mit seinem Sohn zu tun gehabt. Das zu wissen war doch schon mal ganz schön. Die gute Laune verging ihm jedoch im Laufe des Abends, denn er konnte Hanna einfach nicht erreichen. Verdammt, wo trieb sie sich bloß herum? Nichts als Ärger mit dieser Frau. Und außerdem … und außerdem … Die kleine Kurve zwischen Ohr und Wange saß noch immer als Sehnsucht in seinen Fingerspitzen auf der Lauer.
13
In Joschi Schneiders Praxis war ein topmodischer Designer am Werk gewesen: viel Glas und Stahl, türkis und dunkelblau, an den Wänden großformatige, farblich passende Abstrakte, teuer und perfekt vom Teppichboden bis zum Fenstergriff. Das Mädchen hinter der Lochstahlempfangstheke war freundlich und nicht ganz so perfekt. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Computer. Hilfesuchend schaute sie Hanna an. Hanna beugte sich über die Theke, um auf den Bildschirm der jungen Sprechstundenhilfe schauen zu können. Da spürte sie auf ihrem Po einen Blick, so intensiv wie eine Berührung. Empört schnellte sie herum und schnappte nach Luft. Der Mann vor ihr sah nicht nur gut, er sah unglaublich gut aus: hohe Wangenknochen, dicht bewimperte grüne Augen, strahlend weiße Zähne und dazu ein amüsierter Blick, gepaart mit einem leicht spöttischen, aber durchaus anerkennenden Lächeln, das war schon sehr überzeugend.
»Nanu, wen haben wir denn da?«, fragte Joschi Schneider.
»Hanna Tal.« Hanna versuchte, so hoheitsvoll wie möglich zu nicken.
»Die Dame möchte einen Termin«, stammelte das Mädchen am Computer.
»Ach ja?« Joschi Schneider sah Hanna von oben bis unten an. »Und was kann ich Ihnen Gutes antun? Wo liegt das Problem?«
»Ach, es ist eigentlich nur eine Kleinigkeit. Ich habe mich gestern an einer Schrankecke gestoßen, hier im Gesicht, und es tut noch immer ziemlich weh. Ich will nur sichergehen, dass der Kiefer nicht beschädigt wurde.«
Joschi strich sanft mit dem Finger über den roten Fleck auf Hannas Wange. »Ja, da ist eine leichte Schwellung. Wer ist denn als Nächstes dran?«, fragte er das Mädchen hinter der Theke.
»Frau Oberstudienrat Müller. Sie wartet schon eine Stunde.«
»Sagen Sie ihr höflich, dass es noch ein bisschen dauert. Das macht die
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