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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Degen
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müssen. Das konnte sie Kürtchen fragen; Anneliese Kurt war sicher auf Karlas Beerdigung gewesen.
    Es wurde Zeit, dass sie zu Herrn Dechant kam. Er wohnte nur wenige Straßen entfernt in einem großen, mit Masken, Girlanden und Rosetten verzierten Mietshaus, wie sie typisch waren für die Stadterweiterungen Münchens aus der Gründerzeit. Sie klingelte, sagte ihren Namen in die Sprechanlage, und die schwere Holztür öffnete sich. Neben den Briefkästen hing die Hausordnung und am Treppengeländer ein gelbes Schild »Achtung. Frisch gebohnert«. Die beklemmende, enge Sauberkeit im Treppenhaus nahm ihr fast den Atem. Herr Dechant wohnte im obersten Stockwerk. Er hatte sich offensichtlich fein gemacht für ihren Besuch. Er trug ein sehr dilettantisch gebügeltes weißes Hemd, zugeknöpft bis oben, das dem eingeschrumpelten Hals, an dem ein spitzer Adamsapfel hüpfte, zu weit geworden war. Seine Hand, die er Hanna zur Begrüßung hinstreckte, fühlte sich trocken, schuppenglatt und kühl an wie die Haut einer Echse, und er roch so intensiv aus dem Mund, dass sie die Zähne zusammenbiss, um nicht vor seinem Lächeln zurückzuzucken.
    Das Wohnzimmer war sehr groß und bot einen phänomenalen Ausblick über einen kleinen Park auf die Alpen. Trotzdem wirkte es spießig, vollgestellt mit dunklen, schweren Möbeln. Es zeigte Spuren eines gut gemeinten, aber ungeschickten Ordnungswillens. Ein gewitterdräuender Gebirgssee im reich verzierten Goldrahmen hing nach dem Abstauben schief, die Sofakissen hatten einen Knick in der Mitte. Zwischen all der Düsternis schimmerte ein alter Kirschbaumholzsekretär, mit kleinen Schubladen rechts und links, einer halbrunden Höhlung und einer hochklappbaren Platte. So einen hatte Hanna doch unlängst erst gesehen. Wo denn nur? Beim Vorbeigehen strich sie über die samtige Oberfläche und sagte: »Schön ist der.«
    »Ja, den habe ich einmal gekauft.« Herr Dechant nickte stolz. »Die anderen Möbel hat meine Frau ausgesucht. Aber den habe ich durchgesetzt.«
    Auf einem nierenförmigen niedrigen Sofatisch – dem modernsten Stück im Raum – waren die Dokumente aufgeschichtet, deretwegen Hanna gekommen war. Das Zimmer war schon lange nicht mehr gelüftet worden. Der Geruch nach altem Mann stand beinahe greifbar zwischen den Möbeln. Hanna überlegte krampfhaft, wie sie frische Luft hereinlassen konnte, ohne Herrn Dechant zu kränken. Aber so konnte sie unmöglich arbeiten. Nachdem sie sich im Zimmer umgesehen hatte, ging sie zum Fenster und fragte: »Darf ich mal hinausschauen? Sie wissen ja, ich interessiere mich für alte Häuser.« So konnte sie das Fenster öffnen und offen lassen.
    Herr Dechant redete beinahe ununterbrochen. Er hatte wohl nicht oft einen Gesprächspartner. Er sprach vom Wetter, vom Haus und den Nachbarn, vom Tod seiner Frau vor zwei Jahren und wie schwer das Leben für ihn seitdem sei, von ihrem Grab auf dem Ostfriedhof, von der Straßenbahn dorthin, von den Ausländern in der Straßenbahn, von der Unfähigkeit der Politiker, die all diese Ausländer ins Land ließen, und wie schlimm es sei, dass man die Todesstrafe abgeschafft habe.
    Trotz ihres Mitleids mit seiner alten Einsamkeit setzte sich Hanna schließlich energisch auf das Sofa und sagte: »Ich will Ihre Zeit nicht allzu lang in Anspruch nehmen. Ich denke, ich sollte jetzt ein wenig arbeiten.« Sie nahm die erste Akte zur Hand.
    »Ja, natürlich«, bestätigte Herr Dechant und redete weiter.
    Hanna versuchte sich zu konzentrieren. Das fiel ihr zunehmend schwerer. Schläfrigkeit kroch in ihre Augen. Sie war schließlich schon seit fünf Uhr wach und hatte eine lange Fahrt hinter sich; außerdem wirkte die Redseligkeit von Herrn Dechant wie ein Narkotikum. Von der Straße hörte man das trockene Knattern von Rollerblades, mit denen Kinder auf den Gehsteigplatten herumfuhren. Eine Wespe flog zum offenen Fenster herein. Der greisenhaft gebrechlich wirkende Herr Dechant war plötzlich blitzschnell auf den Beinen. Er eilte ins Nebenzimmer und kam mit einer Fliegenpatsche zurück. Die Jagd auf die Wespe eröffnete er mit den Worten: »Sehen Sie, das hat man davon, wenn man das Fenster offen lässt. Dann kommt das Geschmeiß herein.« Mit einem erstaunlich kräftigen Schlag erlegte er die Wespe, packte den Kadaver, dessen Unterteil auf dem Holz der Kredenz kleben blieb, mit spitzen Fingern an einem Flügel und warf sein Opfer in den Hof. Dann schloss er das Fenster.
    Hanna seufzte. Die Arbeitssituation war extrem

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