Das Haus an der Düne
Poirot lehnte sich nach vorne –, «dass Sie als nächster Anverwandter das Testament anfechten werden. Es geht schließlich um ein riesiges Vermögen, und das war nicht der Fall, als das Testament gemacht wurde.»
Vyse maß ihn mit eisigen Blicken. «Das Testament ist gültig. Ich denke nicht im Traum daran anzufechten, wie meine Cousine mit ihrem Vermögen umgeht.»
«Sie sind ein ehrlicher Mensch», sagte Mrs Croft anerkennend. «Und ich werde dafür sorgen, dass es nicht Ihr Schaden ist.»
Bei dieser gut gemeinten, aber doch etwas peinlichen Bemerkung zuckte Charles Vyse sichtlich zusammen.
«Nun, Mutter», sagte Mr Croft und in seiner Stimme klang Freude durch. «Das ist eine gelungene Überraschung! Nick hat mir jedenfalls nie etwas davon erzählt.»
«Das liebe gute Mädchen», murmelte Mrs Croft und führte gerührt ihr Taschentuch an die Augen. «Ich wünschte, sie könnte von oben auf uns herabsehen. Vielleicht tut sie es sogar – wer weiß?»
«Eben, wer weiß?», summte Poirot zu.
Plötzlich schien er einen Einfall zu haben. Er sah sich in der Runde um.
«Ich habe eine Idee. Wir sitzen hier alle an einem runden Tisch. Was halten Sie von einer kleinen Séance?»
«Eine Séance?», fragte Mrs Croft leicht schockiert. «Aber das ist doch sicher…»
«O doch, es wird höchst interessant werden. Hastings hier ist ein hervorragendes Medium.»
Warum trifft es ausgerechnet wieder mich, dachte ich bei mir.
«Sie haben die einmalige Gelegenheit, eine Botschaft aus dem Jenseits zu empfangen! Ich habe das sichere Gefühl, die Zeichen stehen günstig. Sie nicht auch, Hastings?»
«Jawohl», sagte ich entschieden, denn ich wollte kein Spielverderber sein.
«Gut. Das wusste ich. Schnell, das Licht.»
Blitzschnell stand er auf und drehte das Licht ab. Das Ganze war der Gesellschaft geschickt aufgezwungen worden, sodass etwaige Proteste gar keine Chance hatten. Ich glaube, alle waren ohnehin noch völlig benommen und starr vor Überraschung wegen des Testaments.
Das Zimmer war nicht ganz dunkel. Die Vorhänge waren zurückgezogen und das Fenster stand offen, denn es war eine warme Nacht und durch dieses Fenster schien ein fahles Licht in den Raum. Nach ein oder zwei Minuten, die wir schweigend verharrten, konnte ich allmählich die vagen Umrisse der Möbel erkennen. Ich überlegte verzweifelt, was ich wohl tun sollte, und verfluchte Poirot von ganzem Herzen, weil er mir vorher keine Anweisungen gegeben hatte.
Indes schloss ich erst einmal die Augen und atmete röchelnd und schwer.
Kurz danach erhob sich Poirot und kam auf Zehenspitzen zu meinem Stuhl. Er kehrte zu seinem eigenen zurück und murmelte:
«Ja, er ist bereits in Trance. Bald – bald wird etwas geschehen.»
Dieses Dasitzen und Warten im Dunkeln erzeugt eine beinahe unerträgliche Spannung. Es ist mir durchaus bewusst, dass auch ich ein Opfer meiner angespannten Nerven wurde, wie sicherlich alle anderen auch. Jedoch hatte ich als Einziger wenigstens eine vage Ahnung davon, was passieren sollte. Ich allein wusste Bescheid über die entscheidende Tatsache.
Und trotz allem fiel mir das Herz in die Hose, als ich sah, wie sich die Esszimmertür langsam öffnete.
Überraschenderweise ganz geräuschlos – Poirot muss sie extra frisch geölt haben – und die Wirkung war furchtbar gruselig. Ein oder zwei Minuten geschah weiter nichts. Durch die offene Tür schien ein kalter Lufthauch in den Raum zu wehen. Es war sicher normale Zugluft aus dem Garten, die durch das geöffnete Fenster drang, aber ich empfand sie als den eisigen Hauch, der in keiner Geistergeschichte fehlt.
Und dann sahen wir es alle? In der Tür stand eine weiße Schattengestalt. Nick Buckley…
Sie bewegte sich langsam und geräuschlos vorwärts – mit fließenden, beinahe schwebenden Bewegungen, die den Eindruck eines überirdischen Wesens sehr überzeugend vermittelten…
Mir wurde klar, welch eine Schauspielerin an ihr verloren gegangen war. Nick hatte sich gewünscht, eine Rolle in ihrem alten Haus zu spielen. Jetzt war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen und ich war überzeugt, sie genoss jede Sekunde bis zur Neige. Sie erfüllte ihre Rolle perfekt.
Nick schwebte weiter in den Raum – und da wurde das Schweigen gebrochen.
Ein erstickter Schrei ertönte aus dem Rollstuhl neben mir. Eine Art ersticktes Gurgeln von Mr Croft. Ein entgeisterter Fluch von Challenger. Charles Vyse schob seinen Stuhl zurück, glaube ich. Lazarus beugte sich nach vorn. Nur Frederica gab keinen
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