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Das Haus an der Klippe

Das Haus an der Klippe

Titel: Das Haus an der Klippe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Rückbank lag.
    »Natürlich nicht. Ich meine diese Aldermann, die ausgerechnet jetzt hier auftauchen muß.«
    »Ich dachte, das Cottage gehört ihr.«
    »Was hat Besitz für eine Bedeutung? Soll ich etwa dem Meer erzählen, daß mir dieses Haus gehört? Du bleibst hier. Ich muß erst mal sehen, was sich machen läßt.«
    »Hier?«
    »Es gibt schlimmere Orte, wie du inzwischen vielleicht gemerkt hast.«
    »Ja, hab ich, aber ich fürchte mich vor Ratten.«
    »Und es gibt Schlimmeres als Ratten. Aber keine Angst. Die meisten sind schon abgehauen. Es sind kluge Tiere, sie halten lieber zwei, drei Schritte Distanz zum Ozean. Also rühr dich nicht vom Fleck.«
    »Ja, aber …«
    »Mein Herzchen, langsam werde ich zu alt dafür.
Bud’zticha
!« Das hieß
halt die Klappe!
auf tschechisch, aber sie brauchte es nicht zu übersetzen. Der Tonfall sagte alles.
    Jede Sprache hat ihre Stärken, und weil Feenie Macallum so viele beherrschte, hatte sie eine große Auswahl an
mots justes
.
    Mit acht Jahren zum Beispiel konnte sie ihrem Vater in sechs verschiedenen Sprachen sagen, er solle zur Hölle fahren, und keine davon war Englisch.
    Er mußte eine Gouvernante einstellen, um ihr die Sprache ihrer Heimat beizubringen.
    Damals hatte sie ihn gehaßt, denn sie war der festen Überzeugung, daß ihre Mutter im Sterben lag, weil sie nach Gunnery House zurückgekehrt war, und wollte nicht glauben, daß die Mutter hergekommen war, um hier zu sterben. Aber mit ihren letzten Worten (in welcher Sprache, wußte Feenie nicht mehr) hatte ihr die Mutter befohlen, den Vater zu lieben. Und als sie sich am Vorabend der Beerdigung in das Zimmer stahl, in dem die Leiche aufgebahrt war, und Macallum weinend am offenen Sarg sah, erschien es ihr nicht mehr ganz so unmöglich, sich dem Wunsch der Sterbenden zu fügen.
    Am Grab hatte sie seine Hand gehalten, und in der Nacht, als eine Einsamkeit ihr Herz packte, schneidender als der Frost der Karpaten, war sie aus dem Bett geschlüpft und auf der Suche nach Wärme und Trost ins Zimmer ihres Vaters gehuscht.
    Er aber war, wie sie feststellen mußte, nicht in der Lage, dergleichen zu spenden. Vielmehr war er, wie ihr später, wesentlich später, klar wurde, wahrscheinlich selbst des Trostes bedürftig. Aber solche mildernden Umstände ließ sie nicht gelten, als sie beobachtete, wie er sich quer über das große Doppelbett auf den Körper der Gouvernante warf, die sich ihm bereitwillig entgegenreckte.
    Damit war das Muster ihrer künftigen Beziehung vorgezeichnet: Versöhnungen und Waffenstillstandsabkommen, die früher oder später stets in neuen Kriegen endeten.
    Die Gouvernante ging und wurde von einem Hauslehrer abgelöst, der ein sexuelles Problem anderer Art darstellte. Der Arm um ihre Schulter, wenn er neben ihr saß, um ihr bei den Aufgaben zu helfen, konnte noch als Geste pädagogischer Vertrautheit gedeutet werden. Die Hand, die an ihrem Bein emporglitt, und die Finger, die sich an ihrem Höschen zu schaffen machten, gehörten in eine andere Kategorie. Sie stieß ihm einen Füllfederhalter so resolut in den Unterarm, daß sie ihm eine Schlagader durchtrennte.
    Er kam ins Krankenhaus und kehrte nicht zurück. Auf die Fragen ihres Vaters antwortete Feenie nur: »Unfälle passieren eben.«
    Danach schickte er sie in die Grundschule am Ort. Das Schulhofenglisch beherrschte sie nach einer Woche, die Schriftsprache nach einem Monat.
    Und jetzt waren alle ihre Erinnerungen auf englisch. Mit zunehmendem Alter stellte sie fest, daß die Bilder der fernen Vergangenheit an Klarheit gewannen, aber bisher stieß sie auf eine Barriere, wenn sie an jene nicht englischen Tage der Rückkehr nach Axness zurückdachte. Da war etwas, sehr viel sogar, aber es verschwamm in einem Nebel sich vermengender Farben und einander überlappender Bilder. Sie freute sich auf die Zeit, wenn ihre gereifte Erinnerung Licht in dieses Schattenreich bringen würde, und amüsierte sich bei dem Gedanken, daß sie ihre letzten Worte auf dem Sterbebett in einer Sprache sagen würde, die die Pflegerinnen nicht verstanden. Aber solange dieser Durchbruch ausblieb, stützte sich selbst ihre Vorstellung von ihrer Mutter in gesunden Tagen nicht auf eine verläßliche Erinnerung an jene frühen Jahre, sondern auf das Portrait von Mr. und Mrs. Macallum, das in der großen Halle von Gunnery Hall über dem Kamin hing.
    Als sie jetzt das Haus betrat, blieb sie davor stehen, um ihre Gedanken zu ordnen. Es war das einzige Gemälde, das noch im

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