Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus an der Klippe

Das Haus an der Klippe

Titel: Das Haus an der Klippe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
Vom Netzwerk:
narbenübersäten Körper hinab.
    Er ging in den hinteren Teil der Höhle, und im Schein einer Fackel, die die Dienerin hielt, betrachtete er aufmerksam das rote, fiebernde Gesicht des Jungen. Dann nahm er vorsichtig die kleine Kinderhand in seine riesige Pranke und hob sie sacht an. Das Kind schlug die Augen auf und sah den Mann an. Nach einer Weile schloß es sie wieder, und Odysseus ließ seine Hand sanft los. Leise wechselte er einige Worte mit der Dienerin, dann ging er wieder an seinen Platz und goß sich neuen Wein ein. Bis jetzt war es immer der Fürst gewesen, der ihm nachgeschenkt hatte.
    »Also?«
    »Also was?« fragte Äneas.
    »Was verschweigst du mir?«
    »Worüber denn?«
    »Über den Jungen. Er hat hohes Fieber, aber sein Puls geht so langsam, er steht beinahe still, und seine Augen glänzen wie die eines Mädchens, dem man den Familienschmuck zeigt. Die Dienerin sagt, er hätte schon seit fast zwei Tagen keine Nahrung zu sich genommen, nicht einmal Heilkräuter oder so etwas, aber sein Zustand hat sich weder gebessert noch verschlechtert. Und du …«
    »Ja? Und ich?«
    »Du sitzt hier und vertreibst dir die Zeit mit mir. So als wärst du froh, an etwas anderes denken zu können.«
    »Wäre nicht jedermann froh, an etwas anderes denken zu können, wenn er sich um ein krankes Kind sorgen muß?«
    Odysseus schüttelte den Kopf.
    »Das ist gar nicht möglich. Nein, wenn ich dich abgelenkt habe, dann von einer anderen Sorge, einer Entscheidung. Sie betrifft wahrscheinlich den Jungen, aber bevor du sie triffst, wird sich an seinem Zustand nichts ändern. Deshalb kannst du hier so ruhig sitzen, froh, eine Entschuldigung zu haben, die Zeit untätig verstreichen zu lassen. Du kannst es mir ruhig sagen, Fürst. Die Sache wird wohl kaum schlimmer dadurch, daß du sie einem alten griechischen Soldaten erzählst.«
    Äneas blickte ihn kalt an und sagte: »Vielleicht wird die Sache besser, wenn man den hohen Göttern einen alten griechischen Schurken opfert?«
    »Nein«, erwiderte Odysseus und schüttelte heftig den Kopf. »Wenn du das glauben würdest, hättest du es schon vor einer halben Stunde getan. Wahrscheinlich steckt wieder ein Gott dahinter, wie gewöhnlich. Aber das müßt ihr beiden unter euch ausmachen.«
    Der Trojaner nippte an seinem Wein und zuckte dann die Achseln.
    »Warum nicht? Wollen mal sehen, was der klügste Kopf in der zivilisierten Welt damit anfangen kann. Vor zwei Nächten, als ich bei meinem Jungen wachte und um seine Genesung betete, hatte ich eine Vision. Eine Vision! Seltsames Wort für ein altes, buckliges, mit Karbunkeln übersätes Weib, aber wie anders soll man denn jemanden nennen, der es schafft, an den Wachen vorbei hier in die Höhle zu kommen, und weder beim Kommen noch beim Gehen bemerkt wird. Sie hat mir gesagt, daß man diese Insel hier Ogygia nennt und daß sie der Nymphe Kalypso geweiht ist, der Tochter des Atlas, einer Enkelin des mächtigen Uranus, des ältesten aller Götter, und daß wir sie durch unsere Anwesenheit beleidigt hätten. Wenn wir innerhalb von drei Tagen wieder abziehen würden, kämen wir ohne Strafe davon. Aber eine Bedingung für unseren Abzug sei, daß wir Askanius zurücklassen müßten. Falls wir länger als drei Tage blieben, würden wir sterben. Und sollten wir versuchen, ihn mitzunehmen, so würden wir gleichfalls sterben. Die Zeit ist morgen mit der Abenddämmerung abgelaufen. Jetzt weißt du also, warum ich froh bin, daß ich hier im Gespräch mit dir sitze, Odysseus. Wer weiß? Im ersten Moment dachte ich, ob dich vielleicht die Götter mir zur Hilfe gesandt haben, aber jetzt …«
    »Was jetzt?«
    »Nachdem ich dich habe reden hören, kann ich nicht glauben, daß die Olympier jemanden zu ihrem Werkzeug wählen, der so wenig Ehrfurcht vor ihnen hat.«
    »Du könntest dich wundern«, meinte der fette Grieche. »Hast du versucht, sie zu finden, diese, wie hast du gesagt, heißt sie? Kalypso?«
    »Natürlich. Meine Männer sind in alle Richtungen ausgeschwärmt. Sie haben nichts gefunden, kein Anzeichen von Leben oder irgendeiner Behausung, auch kaum Pflanzen. Mir schaudert, wenn ich darüber nachdenke, wie wohl eine Kreatur aussehen muß, die einen solchen Ort zu ihrem geheiligten Aufenthalt wählt. Und wenn ich meinen Jungen ihrer Gnade überlasse … aber welche Wahl habe ich schon? Welche Wahl?«
    Seine Stimme schwoll zu einem Schmerzensschrei an.
    Der arme Kerl hat das Leid gepachtet, dachte Odysseus. Zeig ihm eine Baumnymphe, und er

Weitere Kostenlose Bücher